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»Kein Schlussstrich« nach 75 Jahren Befreiung von Auschwitz
Bundespräsident Steinmeier in Yad Vashem: Deutsche sind heute nicht »immun gegen das Böse« / Israel: »Werden keinen weiteren Holocaust zulassen«
Jerusalem. In einer historischen Rede in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Deutschen an ihre Verantwortung zum Eintreten gegen Antisemitismus erinnert und vor einem Rückfall in autoritäre Denkmuster gewarnt. »Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt«, sagte Steinmeier laut Redetext am Donnerstag aus Anlass des 75. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz. »Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.«
Steinmeier sprach auf einer Versammlung von rund 50 Staats- und Regierungschefs in Yad Vashem. Nach Angaben des israelischen Außenministeriums handelt es sich um das größte Staatsereignis seit der Gründung Israels 1948. Als erster Bundespräsident hielt Steinmeier eine Rede in der Shoa-Gedenkstätte. »Weil ich dankbar bin für das Wunder der Versöhnung, stehe ich vor Ihnen und wünschte, sagen zu können: Unser Erinnern hat uns gegen das Böse immun gemacht«, sagte er. »Ja, wir Deutsche erinnern uns. Aber manchmal scheint es mir, als verstünden wir die Vergangenheit besser als die Gegenwart.«
Steinmeier sprach in seiner Rede eine Warnung aus: »Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentieren ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit.«
Der Bundespräsident verwies auf jüdische Kinder, die in Deutschland »auf dem Schulhof bespuckt« würden. Er beklagte, dass »unter dem Deckmantel angeblicher Kritik an israelischer Politik kruder Antisemitismus hervorbricht«. Und er erwähnte den Synagogen-Anschlag von Halle, wo nur eine schwere Holztür verhindert habe, »dass ein Rechtsterrorist an Jom Kippur ein Blutbad anrichtet«.
Deutschland müsse seiner »historische Verantwortung« gerecht werden, mahnte der Bundespräsident. Diese laute: »Wir bekämpfen den Antisemitismus. Wir trotzen dem Gift des Nationalismus. Wir schützen jüdisches Leben. Wir stehen an der Seite Israels.« Die »deutsche Verantwortung vergeht nicht«, sagte er vor den Gästen in Yad Vashem. »Ihr wollen wir gerecht werden. An ihr sollt Ihr uns messen.«
Steinmeier hob hervor, dass die Lage heute eine andere sei als in der Zeit des Nationalsozialismus. »Natürlich: Unsere Zeit ist nicht dieselbe Zeit. Es sind nicht dieselben Worte. Es sind nicht dieselben Täter«, sagte er. »Aber es ist dasselbe Böse. Und es bleibt die eine Antwort: Nie wieder! Niemals wieder!«
Steinmeier zeigte sich dankbar für die Einladung nach Yad Vashem. »75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz stehe ich als deutscher Präsident vor Ihnen allen, beladen mit großer historischer Schuld«, sagte er. »Welche Gnade, welches Geschenk, dass ich heute hier in Yad Vashem zu Ihnen sprechen darf.«
In seiner Rede erneuerte Steinmeier das Bekenntnis zur Schuld der Deutschen: »Die Täter waren Menschen. Sie waren Deutsche. Die Mörder, die Wachleute, die Helfershelfer, die Mitläufer: Sie waren Deutsche«, sagte der Bundespräsident. »Der industrielle Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte - es wurde von meinen Landsleuten begangen.«
Netanjahu und Rivlin: »Wir werden keinen weiteren Holocaust zulassen«
Die Spitzen von Staat und Regierung in Israel haben den Selbstbehauptungswillen ihres Landes hervorgehoben. »Wir werden keinen weiteren Holocaust zulassen«, sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Donnerstag vor dem Welt-Holocaust-Forum in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. »Das jüdische Volk hat die Lektionen des Holocaust gelernt: Wir nehmen die Bedrohungen derjenigen, die uns vernichten wollen, ernst.«
Namentlich nannte Netanjahu den Iran, den er als den »antisemitischsten Staat der Welt« brandmarkte. »Der Iran bedroht die ganze Welt«, sagte Netanjahu vor den mehr als 40 Staats- und Regierungschefs. »Ich rufe Sie alle auf: Wir müssen uns dem Iran entgegenstellen.« Ausdrücklich dankte Netanjahu den USA für ihren »standhaften Widerstand« gegen den Iran.
Das NS-Vernichtungslager Auschwitz bezeichnete er als »Symbol der jüdischen Machtlosigkeit«. Dies sei vorbei: »Wir haben gelernt, uns selbst zu verteidigen«, sagte Netanjahu.
Israels Präsident Reuven Rivlin forderte ein weltweites Eintreten gegen den Antisemitismus. »Der Antisemitismus hat sich nicht geändert«, sagte er. »Aber wir haben uns geändert. Wir sind keine Opfer mehr. Wir werden uns verteidigen und geradestehen für Juden in aller Welt.«
Putin: Jeder Form von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus muss Widerstand geleistet werden
Beim Gedenken an den Völkermord an den Juden hat der russische Präsident Wladimir Putin die Weltgemeinschaft zu einem vereinten Kampf gegen Antisemitismus aufgerufen. Es müsse jeder Form von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus Widerstand geleistet werden, sagte Putin bei einem Treffen mit dem israelischen Präsidenten Reuven Rivlin am Donnerstag. Die Rote Armee der Sowjetunion habe vor 75 Jahren nicht nur das Vernichtungslager Auschwitz von den Faschisten befreit, sondern »einen entscheidenden Beitrag im Kampf gegen Nazismus geleistet«.
»Was die Tragödie des Holocaust angeht, dann sind 40 Prozent der getöteten und gequälten Juden - Juden der Sowjetunion. Und so ist das im wahrsten Sinn des Wortes unsere gemeinsame Tragödie«, sagte Putin. Er warnte zugleich vor neofaschistischen Tendenzen. »Leider treten in der heutigen Zeit in einer Reihe von Staaten offen menschenfeindliche Ideen des Rassismus und des Antisemitismus hervor - und es werden pro-nazistische Märsche abgehalten«, schrieb Putin der Agentur Interfax zufolge in das Gästebuch des Holocaust-Gedenkforums.
»Es gibt Versuche, die Wahrheit über den Zweiten Weltkrieg zu verzerren und die Aggressoren und ihre Helfer zu rechtfertigen. Es werden Denkmäler der Befreier vom Krieg geschändet oder zerstört.« Russland kritisiert seit Jahren den Umgang vor allem in Osteuropa mit dem Andenken an die Sowjetarmee. Während Russland sie als Befreier bezeichnet, sieht etwa Polen die Sowjetunion als Besatzungsmacht. Im Vorfeld des Holocaust-Gedenktags hatte sich eine geschichtspolitische Kontroverse zwischen Polen und Russland entzündet, die bis heute anhält. Polens Präsident Andrzej Duda hatte seine Teilnahme in Yad Vashem abgesagt, da er dort kein Rederecht eingeräumt bekam
Putin weihte in Jerusalem ein Denkmal zur Erinnerung an die Blockade Leningrads ein. Die 900 Tage lange Belagerung gilt als eines der schwersten Verbrechen der deutschen Wehrmacht gegen die Menschlichkeit im Zweiten Weltkrieg. Auf Befehl von Adolf Hitler sollte die Stadt durch systematisches Aushungern ihrer Bewohner ausgelöscht werden. Mehr als eine Million Menschen starben. Agenturen/nd
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