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Appell an ein Lebensgefühl
Im Ostduell zwischen Magdeburg und Zwickau treffen zwei westsozialisierte Trainer aufeinander - und kämpfen dabei auch für eine im Fußball benachteiligte Region.
Die Sache mit der Plexiglasscheibe ist mittlerweile fast ein Jahr her. Damals, im März 2019, trafen sich Joe Enochs und Claus-Dieter Wollitz zum bislang letzten Mal. In Zwickau, zum Abstiegskrimi. Es sollte ein denkwürdiger Abend werden, an dessen Ende es gewaltig schepperte. Der von Enochs trainierte FSV Zwickau gewann gegen Cottbus mit 2:1. Und Wollitz, damals noch Coach bei Energie, demolierte aus Wut über die Niederlage die Plexiglasscheibe der Trainerbank. Wohl wissend, dass seine Mannschaft die Punkte im Abstiegskampf dringend gebraucht hätte. Was sich dann auch bewahrheitete: Am Ende der Saison stieg Cottbus in die Regionalliga ab, Zwickau schaffte den Klassenerhalt.
Nun sehen sich beide wieder - in Magdeburg. Dort ist »Pele« Wollitz seit drei Wochen als Nachfolger für den erfolglosen Stefan Krämer beschäftigt - und erwartet am Sonnabend im ersten Drittligaspiel des Jahres den FSV Zwickau - und Enochs. Dass sich Zwickaus Coach an der Magdeburger Trainerbank revanchiert, muss Wollitz selbst bei einem Sieg seiner Elf nicht befürchten. Denn was bei der Plexiglas-Nummer unterging, war der bedeutungsvolle Satz, den Enochs später auf der Pressekonferenz sagte - und der für das Duell zwischen dem 1. FC Magdeburg und seinem FSV nicht minder relevant ist. »Wir im Osten«, sagte er und wandte sich Wollitz zu, »wir müssen echt zusammenhalten.«
Man muss wissen, dass Enochs US-Amerikaner ist. Geboren im kalifornischen Pentaluma, hat es ihn mit Anfang 20 nach Deutschland verschlagen. Zwölf Jahre lang beackerte er das defensive Mittelfeld beim VfL Osnabrück. Jenes Gefilde, das man noch zu Enochs’ aktiver Zeit als »Zerstörer-Position« bezeichnete. Mit elf Platzverweisen in insgesamt 403 Zweitliga- und Regionalligaspielen garnierte er sie auch entsprechend.
Nun trifft der eine »Zerstörer« auf den anderen. Doch es ist nicht nur diese unbedingte und manchmal auch haltlose Leidenschaft, die beide verbindet. Da ist auch dieses »wir im Osten« - womit Enochs eigentlich nur seinen Kollegen Wollitz vor öffentlicher Kritik in Schutz nehmen wollte. Glasbruch zählt aus seiner Sicht eben nicht zu den fußballerischen Todsünden. Gleich hat er damit aber noch eine geografische Dimension ins Spiel gebracht: »Wir im Osten«, das sind eben nicht »die im Westen« - wo Enochs und der gebürtige Westfale Wollitz sozialisiert wurden.
In Osnabrück haben beide auch lange zusammengearbeitet. Von 2004 bis 2008 war Wollitz Enochs’ Trainer beim VfL. Danach waren sie im Trainerstab sogar Kollegen. 2009 zog es Wollitz dann nach Ostdeutschland, zu Energie Cottbus. 2012 kehrte er für ein Jahr nach Osnabrück zurück. Von 2015 bis 2017 war dann Enochs Cheftrainer beim VfL.
Dass sich der US-Boy mit seinem jetzigen Arbeitgeber FSV Zwickau identifiziert ist logisch, dort verdient er schließlich seine Brötchen. Dass er sich aber, obwohl erst seit anderthalb Jahren dort tätig, so sehr mit Ostdeutschland verbunden fühlt, und dass er gleich noch Kollege Wollitz mit ins ostdeutsche Boot holt, ist durchaus bemerkenswert. Einen solchen Satz hätte man eher von Wollitz erwartet, der nach zwei Amtszeiten in Cottbus - 2009 bis 2011 und 2016 bis 2019 - fast schon als »halber Ossi« durchgeht. Zumindest fühlte er sich nach Enochs’ Appell direkt angesprochen: Zusammenhalten? »An mir liegt es nicht.«
Die andere Seite ist: Unter dem Label »Wir im Osten« versammeln sich offensichtlich nicht nur ostdeutsche Trainer. Und das ist - bei aller gut gemeinten Solidarität von Enochs - auch ein Problem. Von den zehn Ostvereinen in den obersten drei deutschen Fußballligen werden nur vier von Ostdeutschen trainiert: Erzgebirge Aue von Dirk Schuster, der Hallesche FC von Torsten Ziegner, Carl Zeiss Jena von Rico Schmitt und Hansa Rostock von Jens Härtel. 40 Prozent Osttrainer stehen 40 Prozent Westtrainer gegenüber. Umgekehrt sind gerade nur drei ostdeutsche Übungsleiter bei den insgesamt 46 Vereinen in Westdeutschland tätig: Marco Rose bei Borussia Mönchengladbach, Steffen Baumgart beim SC Paderborn und der eher weniger bekannte Mike Sadlo bei der eher weniger populären SG Sonnenhof Großaspach. In Zahlen: Knapp 70 Prozent Westtrainer gegen 6,5 Prozent Osttrainer. Diese Statistik erhält umso mehr Gewicht, wenn man bedenkt, dass der Anteil im Ausland geborener Trainer in Ost und West fast identisch ist.
Nun sollte im Fußball grundsätzlich egal sein, wo jemand herkommt, solange es nicht um Nationalmannschaften geht. Und dennoch wurde im vergangenen Jahr, als in Ostdeutschland drei Landtagswahlen stattfanden und das 30-jährige Jubiläum des Mauerfalls gefeiert wurde, viel über die zu geringe Repräsentation von Ostdeutschen in verantwortungsvollen Positionen gesprochen. Was sich ganz offensichtlich auch im Fußballgeschäft widerspiegelt. Man könnte also sagen: Wenn Enochs von »wir im Osten« spricht, dann nimmt er eine Art Stellvertreterposition ein, dann füllt er einen ansonsten leeren Platz. Ja, es mangelt ein wenig an erfolgreichen ostdeutschen Fußballtrainern.
Aber Enochs hat noch etwas ganz anderes getan. Er hat, vielleicht ohne es zu bemerken, ein Lebensgefühl bedient. »Wir im Osten müssen echt zusammenhalten.« Darin steckt ja nicht nur eine Abgrenzung nach außen, sondern auch der Appell, sich nach innen solidarisch zu zeigen. Ein bisschen Nestwärme, manche würden vielleicht sagen, ein bisschen Muffigkeit. Ja, das ist es, was die Leute in Zwickau hören wollen, gerade die älteren, weil sie es früher selbst so gelernt haben. Und was sie heute zunehmend beklagen, in postmodernen Zeiten von Digitalisierung und damit einhergehender Individualisierung und Vereinsamung. Früher habe man noch zusammengehalten, heißt es oft.
Und Enochs? Der holt diesen Zusammenhalt einfach so in die Gegenwart, als sei es das Normalste der Welt. Und er wirkt dabei so unfassbar glaubwürdig, weil er im Gegensatz zu anderen, die so etwas predigen, nicht auf Wählerstimmen angewiesen ist.
Da möchte man ihm auf jeden Fall verzeihen, wenn er am Sonnabend die Solidarität mit dem Trainerkollegen für 90 Minuten ruhen lässt. Denn beide Mannschaften, sowohl Magdeburg als auch Zwickau, stecken in der unteren Tabellenhälfte und brauchen dringend Punkte. Es könnte wieder ein Krimi werden, wie damals, an jenem scheppernden Abend in Zwickau.
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