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Keine Räumung ohne Gendern

Wegen männlicher Ansprache des Richters bekommt die Liebig34 eine Gnadenfrist

  • Marie Frank
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir sind sicher bis Ende April!«, ruft eine Sprecherin der Liebig34 auf englisch den rund 100 wartenden Unterstützer*innen zu, die sich daraufhin freudetrunken in die Arme fallen und lautstark jubeln. Eine Flasche Sekt wird geköpft, Sterni-Bierflaschen machen die Runde und die Menschen tanzen ausgelassen zu dem Lied »Survivor« (Überlebende) der Frauencombo Destiny’s Child, das aus den Boxen des Lautsprecherwagens dröhnt.

Kurz zuvor hatten die Richter am Landgericht in Moabit den Verkündungstermin für das Urteil über die Räumungsklage gegen das anarcha-queer-feministische Hausprojekt auf den 30. April festgesetzt. Eigentlich war die Entscheidung noch für Donnerstag erwartet worden, ein Räumungstitel galt als wahrscheinlich. Doch der Anwalt der Liebig34-Bewohner*innen fand einen ungewöhnlichen Ausweg: Weil die Anordnung des vorsitzenden Richters zu den Einlasskontrollen durchgängig in maskuliner Form verfasst war, sei davon auszugehen, dass dieser nicht unvoreingenommen an den Fall herangeht, befand Moritz Heusinger und erklärte den Richter für befangen.

»Dem Verein liegt Geschlechtergerechtigkeit sehr am Herzen«, stellte der Anwalt klar. Die Bewohner*innen eines Hausprojekts, in dem seit 20 Jahren ohne Cis-Männer - also Männer, die auch als solche geboren sind - zusammengelebt wird, als »Vereinsvertreter« zu bezeichnen, sei nicht nur unangemessen, sondern verletze auch die Rechtsvorschriften. In Berlin ist eine geschlechterneutrale Amtssprache seit 2012 verpflichtend. »Ich befürchte, dass ich hier einen Richter vor mir habe, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat«, sagte Heusinger. Dass der vorsitzende Richter Martin Vogel den Befangenheitsantrag zunächst zurückstellte und die mündliche Verhandlung trotzdem eröffnete, wollte Heusinger dann nicht hinnehmen. Der Liebig34-Anwalt verließ daraufhin die Verhandlung und nahm im Zuschauerraum Platz.

Zu einem von den Klägeranwälten beantragten Versäumnisurteil kam es zunächst jedoch nicht: Nach kurzer Beratung entschieden die drei Richter, dass zuerst über den Befangenheitsantrag entschieden werden muss, bevor ein Urteil gesprochen werden kann. Man halte den Räumungsantrag der Kläger allerdings grundsätzlich für berechtigt, stellte Vogel klar.

Ende 2018 war der auf zehn Jahre befristete Pachtvertrag des Hauseigenen Vereins »Raduga« mit dem stadtbekannten und umstrittenen Eigentümer Gijora Padovicz ausgelaufen. Seitdem weigern sich die Bewohner*innen, das seit über 20 Jahren bestehende Hausprojekt zu verlassen. In ihren Augen ist die Befristung nicht wirksam, da es sich nicht um Gewerbe-, sondern um Wohnraum handle.

Bis zum 30. April sind die Bewohner*innen der Liebig34 vor einer Räumung sicher - wenn nicht sogar noch länger. Denn dass die Polizei das Haus im umkämpften Friedrichshainer Nordkiez unweit der Rigaer Straße in der Walpurgisnacht vor dem 1. Mai räumt, dürfte angesichts des zu erwartenden Widerstands eher unwahrscheinlich sein.

In der Nacht zum Donnerstag hatte es laut Gerichtssprecherin Lisa Jani einen Angriff auf das Auto des Anwalts von Padovicz gegeben. Die Scheiben seien eingeschlagen, Buttersäure auf einen Kindersitz und Bauschaum in den Auspuff gesprüht worden. Auf die Motorhaube wurde mit pinker Farbe der Schriftzug »L34 stays« (L34 bleibt) gesprüht.

»Der juristische Kampf wird weitergehen«, kündigte Moritz Heusinger am Donnerstag an. So richte sich der Räumungsprozess gegen den Verein »Raduga«, die Räume seien jedoch mittlerweile in der Hand des Vereins »Mittendrin«, der zuvor einen Untermietvertrag mit »Raduga« gehabt habe. Sollte es also im April zu einem Räumungstitel gegen »Raduga« kommen, könne dieser nicht gegen »Mittendrin« vollstreckt werden. Allzu große Hoffnung wollte der Anwalt aber nicht machen: Diese Frage könne auch sehr kurzfristig in einem Eilverfahren behandelt werden.

Die Bewohner*innen der Liebig34 haben ihr Vertrauen in den Rechtsstaat ohnehin längst verloren. »Wir erwarten von der Justiz keine Gerechtigkeit, da sie nur die Kapitalinteressen schützt«, sagte eine Sprecherin nach dem Prozess. »Wir haben nichts mehr zu verlieren, wir werden weiter in unserem Haus bleiben.«

Im Anschluss zogen Bewohner*innen und Unterstützer*innen zum Berliner Abgeordnetenhaus. Dort warfen sie Konfetti von der Besuchertribüne ins Plenum und riefen »Ihr habt die ganze Stadt verkauft«. Unter »Liebig bleibt«-Sprechchören entfernten sie sich daraufhin ebenso schnell, wie sie gekommen waren, ohne dass der Ordnungsdienst sie aufhalten konnte.

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