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Es braucht mehr Mitbestimmung
Der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler über 100 Jahre Betriebsrätegesetz in Deutschland
Das Betriebsrätegesetz ist vor genau 100 Jahren im Reichsgesetzblatt veröffentlicht worden. Von vielen abhängig Beschäftigten wurde es keineswegs als große Errungenschaft verstanden. Weniger als einen Monat zuvor, bei der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs am 13. Januar 1920, hatte es eine große Demonstration vor dem Reichstagsgebäude gegeben. Die Sicherheitskräfte schossen mit scharfer Munition, unter den Demonstranten gab es 42 Tote und über 100 Verletzte. Ablehnung und Misstrauen gegen das Gesetz waren verständlich, hatten doch Ministerien noch unter Kaiser Wilhelm II. ganz ähnliche Ideen entwickelt. Das waren nicht die »roten Räte« der Revolution.
Gewählte Vertreter im Betrieb, die ihre Arbeit selbst organisieren konnten, das war dennoch ein fühlbarer Fortschritt. Noch »weit, weit schlechter« wäre die Lage in den Betrieben gewesen, hätten nicht »mutige und um den Menschen besorgte« Betriebsräte »wachsam und erbittert gegen den Feind der Arbeiterklasse, gegen das Kapital gekämpft« - so beschrieb Jürgen Kuczynski die Weimarer Situation. Nach dem Machtantritt der NSDAP wurden die im März 1933 turnusmäßig beginnenden Betriebsratswahlen abgebrochen, weil die Nazi-Vertreter kaum über zehn Prozent der Stimmen hinausgekommen waren. Es begannen politische Säuberungen; 1934 wurde der Betriebsrat durch einen »Vertrauensrat« ersetzt, der nichts mehr mit Interessenvertretung zu tun hatte.
Unmittelbar nach der Niederlage des Faschismus bildeten sich 1945 in zahlreichen Betrieben neue Betriebsräte - ganz gegen deutsche Gewohnheit auch ohne rechtliche Grundlage. Diese kam weniger als ein Jahr nach Kriegsende in Form des Kontrollratsgesetzes Nr. 22: Betriebsräte konnten danach unter maßgebender Beteiligung der Gewerkschaften gewählt werden. Sie waren frei, den Umfang ihrer Mitbestimmungsrechte durch Vereinbarung mit dem Arbeitgeber festzulegen und dafür notfalls auch zu streiken. Dies war ein großes Stück Freiheit, das es so nie wieder gab. Doch die Freiheit wurde nur in wenigen Betrieben genutzt. Stattdessen wollten die meisten Betriebsräte gesetzlich vorgegebene Mitbestimmungsrechte haben; die »Kampfaufgabe« war wenig willkommen. Schon deshalb verwundert es nicht, dass die Gewerkschaften den Kampf gegen das Betriebsverfassungsgesetz 1952 verloren. Erst 1972 kam es in der Bundesrepublik unter der Losung »Mehr Demokratie wagen« zu einer Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten der Betriebsräte und zu einer deutlichen Erweiterung der Mitbestimmungsrechte.
Und heute? Zwischen 1968 und 1978 stieg die Zahl der Betriebsräte fast um die Hälfte, doch seit gut 20 Jahren geht der Trend in die entgegengesetzte Richtung. Nur noch rund 40 Prozent aller Arbeitnehmer haben einen Betriebsrat. Dabei ist er heute so nötig wie eh und je. Statt weniger bräuchte es mehr Betriebsräte mit größeren Mitbestimmungsrechten. Da sind einmal die Leiharbeiter, die Soloselbstständigen sowie die von Drittunternehmen Entsandten: Sie arbeiten oft jahrelang Hand in Hand mit den fest Beschäftigten, doch der Betriebsrat hat kein wirkliches Mandat, für sie zu sprechen. Nur die Leiharbeiter dürfen wählen, aber können nicht gewählt werden; sie bleiben Beschäftigte zweiter Klasse.
Da gibt es zum Zweiten ausländische Konzernspitzen. Sie entscheiden oft selbstherrlich über neue Techniken und Personalabbau. Der Betriebsrat verhandelt mit deutschen Managern ohne eigene Befugnisse. Kompromisse sind deshalb kaum erreichbar. Manchmal hilft die Einigungsstelle, doch steht auch sie auf dem Papier, wenn die oberste Leitung ernsthaft mit Betriebsschließung oder Verlagerung ins Ausland droht.
Zum Dritten müssen sich Betriebsräte den zahlreichen Problemen stellen, die die Digitalisierung mit sich bringt. Etwa bei Fragen der Arbeitszeit: Kann man erreichen, dass bestimmte Teile des Tages und der Woche von jeder Anforderung frei bleiben? Oder beim Technikeinsatz: Auf einem großen deutschen Flughafen gibt es ca. 3000 Videokameras, jede unterliegt der Mitbestimmung. Wer ist in der Lage, mehr als nur gelegentlich »ja, aber« zu sagen?
Eine andere Aufgabe ist vielleicht noch viel dringender: Klimaschutz muss ein Thema für Betriebsräte werden - auch ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage. Dafür gibt es Rückenwind aus der ganzen Gesellschaft. Hier könnte eine große Chance für einen Neuanfang liegen.
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