Quer durch alle Klassen und Blasen

Deutschland hat ein Repräsentationsproblem - können Losverfahren das ändern?

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 4 Min.

Nicht nur die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen hat gerade wieder überdeutlich gezeigt, dass die parlamentarische Demokratie in Deutschland in der Krise ist. Ein fragmentierter und von extrem Rechten unterwanderter Landtag wählte einen Kandidaten zum Regierungschef, dessen Partei mit 5 Prozent gerade so ins Parlament eingezogen war, während laut Umfragen 70 Prozent der Bevölkerung sich Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten gewünscht hätten - auch wenn sie dessen Linkspartei gar nicht gewählt hatten. Das Parlament repräsentierte hier also alles andere als das, was es eigentlich repräsentieren sollte: die Bevölkerung.

Dieses Repräsentationsproblem wird aber auch in einem anderen Bereich deutlich, nämlich im Lobbyismus. Man würde hier gerne die genaue Zahl derer nennen, die im Auftrag großer Unternehmen im Regierungsviertel unterwegs sind. Aber es gibt schlicht keine offiziellen Zahlen dazu, kein zentrales Lobbyregister, wie es etwa die Organisation Lobbycontrol seit Langem fordert. Man weiß nur, es sind sehr viele: Schätzungsweise fünf bis sechs Lobbyisten kommen auf einen Bundestagsabgeordneten, einige Hundert haben sogar direkten Zugang zum Bundestag. Die wenigsten von ihnen sind Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen.

Das beklagt auch der Dortmunder Abgeordnete Marco Bülow, ehemals SPD, seit seinem Parteiaustritt fraktionslos. Inzwischen aber seien die Parlamentarier immer weniger von Interesse für Lobbyisten, ihr Einfluss auf politische Entscheidungen sei schlicht zu gering. Lieber diktierten die Unternehmensvertreter direkt in den Ministerien die Gesetzesvorschläge, die die Parlamente dann nach strategischer Fraktionsraison einfach abnickten.

Bülow hatte diese Woche zahlreiche Vertreter zivilgesellschaftlicher Gruppen, darunter Extinction Rebellion, Mehr Demokratie e. V., aber auch viele kleinere, in den Bundestag eingeladen, um unter dem Titel »Re:claim the house« über neue und bessere Beteiligungsformate zu diskutieren. Dabei ging es aber nicht nur um das Haus des Parlaments, sondern gewissermaßen auch um das symbolische Haus der Demokratie selbst, das für seinen Souverän, das »Volk«, zurückerobert werden soll. Denn zwar gehe wohl alle Macht vom Volke aus - wie die einstige FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher das Grundgesetz abwandelte -, aber sie komme nicht mehr zurück.

Ein Vorschlag, der Bevölkerung diese Macht wieder zurückzugeben, sollte von der Journalistin Verena Friederike Hasel kommen, die in ihrem Buch »Wir wollen mehr als nur wählen« für eine Dreigliederung aus gewähltem Parlament, bundesweiten Volksentscheiden und gelosten Bürgerversammlungen plädiert - aber leider wegen Krankheit verhindert war. In eine ähnliche Kerbe schlug allerdings Katharina Liesenberg vom Verein »Mehr als wählen«, der in Frankfurt einen gelosten »Demokratiekonvent« zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung in der Stadt durchgeführt hat. Die erarbeiteten Vorschläge - etwa ein »rollendes Wohnzimmer«, eine Dialogplattform sowie ein dauerhafter Konvent - wurden schließlich der Stadtverordnetenversammlung zur Umsetzung übergeben.

Der Dortmunder Abgeordnete Bülow versteht solche gelosten Gremien als Orte einer erneuerten demokratischen »Resonanz« (so ein Begriff des Soziologen Hartmut Rosa), die im festgefahrenen Stellungskampf der Parlamentsdebatten kaum noch zu erreichen sei. Das qualifizierte Losverfahren sorge für eine Repräsentation der Bevölkerung nach ihrer tatsächlichen Zusammensetzung - was der Bundestag mit seiner Akademikerquote von 84 Prozent längst nicht mehr leiste. So komme hier die Bevölkerung mit sich selbst ins Gespräch, quer durch alle Klassen und Blasen - etwas, das nach Meinung vieler Beobachter unserer heutigen Gesellschaft grundlegend fehlt.

Diese Selbstverständigung des Souveräns bringe keineswegs reaktionäre Beschlüsse hervor, wie es etwa (schlecht vorbereiteten) Volksentscheiden häufig vorgeworfen wird. Im katholischen Irland etwa haben geloste Bürgerversammlungen die Ehe für alle eingeführt und das Abtreibungsverbot aufgehoben, ein folgendes Referendum hat diese Empfehlungen dann bestätigt.

Es ist also kein Zufall, dass fast alle der von Bülow eingeladenen Gruppen das Instrument geloster Gremien zur Ergänzung gewählter Parlamente befürworteten. Der Verein »Mehr Demokratie« etwa hat gerade den ersten gelosten Bürgerrat auf Bundesebene organisiert, der dem Bundestag empfahl, ein solches Instrument fest zu institutionalisieren. Denn auch die unter enormem Vertrauensverlust leidenden Berufspolitiker könnten letztlich nur gewinnen, wenn sie dem echten Dialog mit und unter den Bürgern wieder mehr Raum geben - und damit endlich wieder »mehr Demokratie wagen«. Bülow möchte mit seiner Plattform »Pro« verschiedenste Bemühungen dazu bündeln.

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