Wenn Ichlinge in Fahrt sind

SONNTAGSSCHUSS: Was Jürgen Klinsmann »Commitment« nannte, war in Wirklichkeit eiskaltes Machtkalkül, glaubt Christoph Ruf

Ich habe viele Jahre auf St. Pauli gewohnt, den größten Supermarkt vor Ort gibt es noch heute. Man kann dort jetzt auch Superfood und Mineralwasser für ein paar Euro die Flasche kaufen. Früher, vor der Hipsterisierung, war das begehrteste Getränk dort Dosenbier. Auch viele der Angestellten sahen so aus, als lebten sie ausschließlich von flüssiger Nahrung. Geredet wurde nicht viel, schon gar nicht an der Kasse. Man zahlte und ging, keiner wollte einem eine Kundenkarte oder einen »Schönen Tag noch« aufdrängen. Es waren paradiesische Zeiten. Dann wechselte der Eigentümer. Aus »real« wurde »Walmart«.

Dass neben der Nutella nun Erdnussbutter stand, war irritierend. Richtig schlimm war aber das Bild, das sich bot, als ich einmal kurz nach Marktöffnung um sieben dort hineinstolperte: Ein etwa 30-jähriger Mann stand da, um ihn herum die Angestellten im weißen Kittel, die dreinblickten, als habe man sie zu ihrer eigenen Hinrichtung abkommandiert. Und so ähnlich war es ja auch. Schließlich wollte der Walmart-Mann die armen Menschen dazu bringen, den so genannten »morning cheer« abzusondern, ein beknacktes Ritual, bei dem die Angestellten klatschender- und singenderweise den Firmennamen (»Walmart! Walmart! Walmart!«) abfeiern und ihre Freude herausbrülllen über ihr Glück, in den kommenden Stunden Mehltüten einsortieren und Wurst abwiegen zu dürfen.

Es ist ein Ritual, das in den USA merkwürdigerweise klappt: Das Netz ist voller Filmchen vom »Grand opening« irgendeiner Filiale, vor dem die Angestellten zu Ehren des Arbeitgebers tanzen und singen. In Hamburg-St. Pauli hat niemand mitgesungen, manche Menschen blickten verlegen vor sich hin, anderen war eine regelrechte Wut über etwas anzusehen, was andernorts zur Alltagskultur gehören mag, hier aber nur als dummdreister Nötigungsversuch empfunden werden konnte.

Womit wir bei Hertha BSC Berlin wären. Schon als Jürgen Klinsmann dort aufschlug, wirkte seine kalifornisierte Rhetorik in der Wüste des märkischen Sandes wie einst der »morning cheer« in einer Hamburger Kaufhalle, in der schon ein simples »Moin« als sinnlose Geschwätzigkeit empfunden worden wäre. Der erste Eindruck trog nicht, denn so wie »Walmart« nur eine Episode auf St. Pauli war, so zog auch Klinsmann schnell wieder von dannen. Beleidigt darüber, dass er nicht die ganze Macht bekam, setzte er sich in den nächsten Flieger. Und informierte dabei offenbar nicht mal Herthas mächtigen Investor Lars Windhorst über seinen Schmollanfall.

Wenn Ichlinge in Fahrt sind - das immerhin ist eine tröstliche Erkenntnis -, spielen manchmal eben nicht mal mehr Loyalitäten innerhalb der eigenen Seilschaften eine Rolle. Wie es in den knapp über 70 Tagen, in denen Klinsmann an der Macht war, ja auch ein merkwürdiges Missverhältnis zwischen seiner auf Gemeinsinn, Teamgeist und eben überhaupt auf »Commitment« angelegten Rhetorik und der Tatsache gab, dass er selbst reihenweise Spieler abservierte oder verkaufen ließ. Ohne ihnen auch nur mal kurz erklärt zu haben, warum sie durch sein Raster gefallen waren. Das Pathos des Gemeinsinns, das eiskaltes Machtkalkül kaschiert - auch das kommt einem bekannt vor aus Politik und Wirtschaft.

Hinter all dem Gehabe eines Kindes, das seine Sandschaufel von sich wirft, steckt auch hier eine reine Machtfrage. Klinsmann hat ja recht, wenn er betont, dass sich das angelsächsische Coaching-Modell grundsätzlich von dem unterscheidet, das die Bundesliga prägt. Ihm wäre es lieber gewesen, er hätte neben der Arbeit auf dem Platz auch gleich noch die Alleinherrschaft über die Kaderplanung übertragen bekommen.

Arsenal London unter Arsène Wenger oder Liverpool unter Jürgen Klopp arbeiten tatsächlich so. Nur dass die Beiden eben schon bewiesen haben, dass sie eine Mannschaft Stück für Stück verbessern können, dass sie mit all dem Geld, das ihnen alleinverantwortlich anvertraut wurde, umgehen können. Klinsmann ist diesen Beweis bislang schuldig geblieben. Als Vereinstrainer waren seine Erfolge ausgesprochen überschaubar; so mancher Transfer, den er zu seiner Zeit beim FC Bayern tätigte, sorgte im Mannschaftskreis für ernste Zweifel an seinem Sachverstand.

Im Fußball ist es nie gut, wenn einer allein am Steuer sitzt. Es kann ihn dann nämlich keiner mehr aufhalten. Selbst dann nicht, wenn er zwar versprochen hat, alle mitzunehmen, dann aber die ganze Besatzung am Wegesrand stehen lässt.

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