Traum von der »Weltmacht Europa«

Für mehr Einfluss auf die Weltpolitik ist die EU auf Großbritannien angewiesen, meint Jörg Kronauer

  • Jörg Kronauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Das klang vielversprechend: Was die in Kürze beginnenden Verhandlungen über die Post-Brexit-Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU betreffe, so müsse man davon ausgehen, hielt Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian ganz nüchtern am Wochenende auf der Münchner Sicherheitskonferenz fest, »dass wir uns gegenseitig zerfetzen werden«. Das gehöre bekanntlich bei Verhandlungen auf internationaler Ebene dazu: »Alle werden ihre eigenen Interessen verteidigen« - was auch sonst. Behält Le Drian Recht, dann darf man sich also auf ein weiteres Jahr heiteren Intrigierens, genüsslichen Fallenstellens und gelegentlich ein wenig ausufernder Politschlägereien über den Ärmelkanal hinweg einstellen. Also: same procedure as every year. Seit 2016 jedenfalls. Freilich mit einer wichtigen Einschränkung.

Bis Jahresende müssen die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union zumindest in ihren Grundzügen vertraglich festgelegt sein; anders als in den Jahren zuvor schließt London die Verlängerung der Verhandlungen diesmal kategorisch aus. Die Beziehungen zu den britischen Inseln aber sind für die EU wichtiger denn je zuvor. Brüssel hat in den vergangenen Monaten und Jahren keinen Zweifel daran gelassen, wie sie sich ihren künftigen Status in der Weltpolitik vorstellen. Von »strategischer Autonomie« war da häufig die Rede, also davon, von äußeren Mächten - auch von den USA - in Zukunft unabhängig zu sein. »Auf Augenhöhe mit den USA und China« müsse man stehen, hieß es unter führenden deutschen Politikern. In Brüssel war sogar offen davon die Rede, die EU solle »eine Weltmacht werden«. Dazu passt es nun aber nicht, wenn die Union ihre zweitgrößte Volkswirtschaft, ihre vielleicht schlagkräftigsten nationalen Streitkräfte und eine global recht stark aufgestellte Diplomatie verliert. In ihrem ehrgeizigen Kampf um ihren künftigen Einfluss auf die Weltpolitik ist die EU eigentlich auf Großbritannien angewiesen.

Daran liegt es, dass vor allem aus Berlin in den vergangenen Wochen erstaunlich freundliche Töne in Richtung London zu vernehmen waren: Nachdem der Versuch gescheitert ist, Großbritannien zu einem zweiten Referendum oder einer anderweitigen Annullierung des Austrittsvotums zu nötigen, besteht das Mittel der Wahl jetzt darin, ein fruchtbares Post-Brexit-Abkommen anzustreben. »Ich freue mich auf unsere weitere Zusammenarbeit«, teilte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach dem Wahlsieg von Boris Johnson am 12. Dezember mit. Außenminister Heiko Maas (SPD) bekräftigte zum gleichen Anlass, er wünsche, »dass Großbritannien auch nach dem Brexit ein enger Partner bleibt«, gerade auch »in der Außen- und Sicherheitspolitik«. Ende Januar legte er nach und verlangte »neue, inklusive Formen der Zusammenarbeit«. Er und Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) haben mittlerweile konkrete Vorschläge präsentiert: die Schaffung eines »Europäischen Sicherheitsrats« unter Einbeziehung Großbritanniens etwa oder regelmäßige Verhandlungen im »E3«- oder »E4-Format« - Deutschland, Frankreich und Großbritannien, unter Umständen noch Italien, als heimliches Direktorat für die Außen- und Militärpolitik der EU.

Im Prinzip stehen die Chancen für eine enge Post-Brexit-Kooperation der EU mit Großbritannien nicht schlecht, denn auch das Vereinigte Königreich hat Interesse daran. Nach seinem Austritt aus der Union versucht es, sich international neu und so profitabel wie möglich zu positionieren. Dazu gehört eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten ebenso wie eine intensivere Finanzkooperation der Londoner City mit China. Die Möglichkeit, sich gemeinsam mit der EU als globale Macht zu positionieren, ist ein weiteres Element, von dem sich die britischen Eliten eine Ausweitung ihrer politischen Spielräume erhoffen. Nicht umsonst hat sich London dem Druck Washingtons, Huawei vom britischen 5G-Netz auszuschließen, bislang mit allen Mitteln widersetzt und steht im Konflikt um das Atomabkommen mit Iran solide an der Seite der EU.

Eine dauerhaft enge Zusammenarbeit mit der Union liegt aktuell im beiderseitigen Interesse. Freilich setzt sie eins voraus: Die Auseinandersetzungen um die Post-Brexit-Beziehungen dürfen - Intrigen hin, Raufereien her - nicht außer Kontrolle geraten. Denn dann sähe es deutlich schlechter aus für die in Berlin und Brüssel ersehnte »Weltmacht Europa«.

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