Es braucht mehr als einen kostenlosen Öffentlichen Verkehr

Der Nachhaltigkeitsforscher Kai Niebert hält einen Gratis-Transport in Deutschland für richtig - falls Milliarden in den Ausbau investiert werden

  • Lesedauer: 4 Min.

Luxemburg führt am 1. März den kostenlosen Öffentlichen Personenverkehr ein. Ließe sich so etwas auch in größeren Staaten wie Deutschland ein realisieren?
Ja, sicher. Ob das der richtige Weg ist, ist angesichts des riesigen Investitionsstaus in den Öffentlichen Verkehr (ÖV) allerdings eine andere Frage. Zum Beispiel bekommen die Bahnen in Köln zu den Stoßzeiten schon heute die Menschen fast nicht mehr von den Bahnsteigen weg. Um das zu ändern, bräuchte es zusätzliche Investitionen in Elektrobusse, neue Gleise, mehr Züge und Trams, vor allem im Nahverkehr.

Wo soll das Geld herkommen?
Der deutsche Staat gibt jährlich 28 Milliarden Euro an Subventionen aus, die den Umwelt- und Klimazielen widersprechen und sozial fragwürdig sind. Dazu gehören Steuervergünstigungen für Flüge, Pendlerpauschale, Dienstwagenprivileg oder Dieselsubventionen. Der gesamte ÖV in Deutschland kostet hingegen nur 12 Milliarden Euro im Jahr. Etwa die Hälfte davon steuern die Nutzer bei, die andere Hälfte trägt die öffentliche Hand. Würde man alleine die Dieselsubventionen und die Pendlerpauschale abschaffen, hätte man 12 Milliarden Euro zur Verfügung. Mit der Hälfte der Summe könnte man den ÖV kostenlos gestalten, die andere Hälfte wäre für Investitionen übrig.

Nahverkehr in Luxemburg
Kai Niebert ist Professor für Didaktik der Naturwissenschaften und Nachhaltigkeit an der Universität Zürich und leitet zudem den Deutschen Naturschutzring, einen Dachverband von 97 Natur-, Tier- und Umweltschutzverbänden. Mit dem 40-jährigen Nachhaltigkeitsexperten sprach Eric Breitinger.

In Deutschland wurden seit 1990 rund 6300 Kilometer an Bahnstrecken stillgelegt. In ländlichen Regionen sind die Verbindungen oft miserabel. Fiele die Pendlerpauschale weg, träfe das nicht vor allem die Krankenschwester in Mecklenburg-Vorpommern, die ihr Auto braucht, um vom Dorf zur Klinik in die Stadt zu fahren?
Es braucht eben mehr als einfach einen kostenlosen ÖV. Entscheidend für die Wahl des Verkehrsmittels sind neben dem Preis Schnelligkeit, Komfort und Sicherheit. Hier muss der ÖV in den Städten zulegen. Auf dem Land muss der Bus öfter und flexibler fahren. Dann kommt auch die Krankenschwester aus dem Umland besser in die Stadt. Das Geld dafür ist da, genauso wie die Nachfrage: Eine Statista-Umfrage aus dem Jahr 2018 ergab, dass 54 Prozent der Befragten vom Auto auf Bus und Bahn umsteigen würden, wenn die Nutzung kostenlos wäre. Für 41 Prozent der Befragten wären bessere Verbindungen und für 31 Prozent eine bessere Taktung notwendig. Nur 18 Prozent wollen gar nicht aufs Auto verzichten,12 Prozent nur bei höheren Spritpreisen. Das zeigt: Ein kostenloser ÖV in Kombination mit mehr Investitionen hätte eine hohe Lenkungswirkung.

Und wie sozial wäre der Gratis-ÖV?
Ein kostenloser oder stark vergünstigter ÖV würde das Grundrecht auf Mobilität einlösen. Nun wären auch sozio-ökonomisch schlecht gestellte Gruppen mobil, unabhängig vom Einkommen. Hinzu kommt, dass die schwächsten Verkehrsteilnehmer, also Fußgänger und Radfahrer, häufiger auf den ÖV umsteigen. Dadurch würde die Zahl der Unfälle mit Schwerverletzten und Toten sinken. Die Städte würden von den Pkw entlastet und wieder lebenswert.

Würden beim Gratis-ÖV nicht die Fahrgastzahlen explodieren? Wie sollen Bus und Bahn den zusätzlichen Massenansturm bewältigen?
Bisher testeten vor allem Kleinstädte kostenlose Modelle, in denen der ÖV stark defizitär war. Die Planer wünschten sich steigende Fahrgastzahlen. In Großstädten ist die Lage eine andere. Hier kommt der ÖV schon heute oft an seine Grenzen. Die Verantwortlichen müssen dort Maßnahmen ergreifen, um die steigenden Fahrgastzahlen zu bewältigen. Sie könnten größere Fahrzeuge wie Gelenkbusse einsetzen, die Taktung erhöhen, Busspuren schaffen oder - hier wird es teuer - weitere Gleise bauen. Alles in allem wird es ohne Investitionen nicht funktionieren.

Und was bringt das alles der Umwelt?
Verringert sich der Autoverkehr, sinkt die Umweltbelastung. Schließlich verursacht eine Person im Auto rund viermal so viele klimaschädliche CO2-Emissionen wie ein ÖV-Nutzer. In Zahlen: Auf den Autofahrer entfallen im Durchschnitt 138 Gramm CO2 pro Kilometer, auf einen Bahnpassagier 36 und auf den Busnutzer 32 Gramm.

Wie könnten sich die Pläne für einen Gratis-ÖV in Deutschland in der Praxis umsetzen lassen?
Die Umwidmung von Subventionen beträfe vor allem den Bund. Er müsste die Mittel an die Kommunen durchreichen. Sie sind ja für den öffentlichen Verkehr zuständig. In einem föderalen Land ist das nicht einfach. Aber nur so können wir die Klimaziele erreichen und die Lebensqualität der Menschen steigern. Der Staat könnte mit dem Umbau den Bürgern zeigen: Wir sind für euch da - und nicht für drei Tonnen Blech auf Rädern.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.