Die Revolution kommt in eine verschlafene Grenzstadt

Die 26-jährige Demokratin Jessica Cisneros kämpft in Süd-Texas für einen Bruch mit der alten Garde der US-Demokraten

  • Moritz Wichmann, Laredo, Texas
  • Lesedauer: 6 Min.

Wer auf der Interstate 35 von San Antonio nach Süden fährt, rast vorbei an grasenden Rindern und Kühen, einigen Ölförderpumpen und vor allem sehr viel Brachland. Am Rand der Autobahn liegen immer wieder Reifenteile - es sind die Überreste der Momente, wenn der nicht endend wollende Strom von großen verchromten Lastwagen aus und in die Grenzstadt Laredo kurz aufgehalten wird. Es ist ein Texas-Klischee, wie es im Buche steht.

Doch auch wenn alles auf den ersten Blick seinen gewohnten Gang geht, politisch findet im Kongresswahlbezirk Texas 28 gerade eine intensive Auseinandersetzung statt, die dem sonst verschlafenen Wahlkreis plötzlich landesweite Aufmerksamkeit beschert. Vertreten wird der «district» vom konservativen Demokraten Henry Cuellar. Er sitzt seit 2004 als Abgeordneter im US-Repräsentantenhaus und musste sich nie wirklich in einer Vorwahl gegen parteiinterne Herausforderer behaupten. In Texas 28 dominieren die Demokraten. Hillary Clinton gewann hier bei der Präsidentschaftswahl 2016 mit 20 Prozentpunkten Vorsprung.

Cuellar ist Mitglied der konservativen Demokraten-Vereinigung der Blue Dogs. Im Sinne der «parteiübergreifenden Freundschaft» machte er in der Vergangenheit Wahlkampf für Republikaner. Er ist ein Waffenfreund und Abtreibungsgegner, lässt sich seine Wahlkämpfe von der privaten Gefängnisindustrie sowie privaten Krankenversicherungsfirmen, Ölfirmen und sogar den republikanischen großindustriellen Koch-Brüdern bezahlen. Der von Letzteren finanzierte LIBRE Initiative Action sprach sich Anfang Februar sogar offiziell für Cuellar als «Mann der parteiübergreifenden Zusammenarbeit aus - die Denkfabrik unterstützt sonst nur Republikaner.

Der acht Mal wiedergewählte Politiker verkörpert fast perfekt nahezu alles, was laut progressiven Demokraten falsch ist am Establishment-Flügel der Partei. Zuletzt stimmte er vor wenigen Wochen gegen den »PRO Act«, das von den Demokraten im Repräsentantenhaus mit nur sieben Demokraten-Gegenstimmen verabschiedete Gesetz soll es Arbeitern ermöglichen, sich einfacher in Gewerkschaften zu organisieren. »Wähle einfach ein Thema, Cuellar ist überall auf der falschen Seite«, sagt Jessica Cisneros.

Die erst 26-jährige Anwältin hat einst Praktikum bei Henry Cuellar gemacht und sich vor einem Jahr entschlossen, ihm seinen Sitz abzujagen. Seitdem organisiert sie eine Graswurzelkampagne vor Ort. Sie hat ihren Job in New York gekündigt und ist, um Geld zu sparen, wieder bei ihren Eltern in Laredo eingezogen. Derzeit stiefelt sie in Cowboy-Boots durch die staubigen Straßen im Wahlbezirk und macht Haustürwahlkampf.

Ihr High-School Lehrer hat sie bei den »Justice Democrats« als Kandidatin vorgeschlagen. Die linke Denkfabrik wurde 2017 von jungen Parteilinken gegründet, um möglichst viele moderate Demokraten durch progressive Abgeordnete zu ersetzen, die kein Lobbyistengeld annehmen und eine linke Agenda vertreten. Sie sind Teil einer jungen Generation von Parteiaktivisten, die relativ rechte Demokraten wie Cuellar nicht mehr akzeptieren wollen.

Jessica Cisernos ist Tochter mexikanischer Einwanderer und erzählt, wie sie in ihrer Kindheit aus dem Schulfenster verzweifelte Familien über den Rio Grande kommen sah, »die aussahen wie meine«. Ihr Vater arbeitete als Farmarbeiter in den USA und hat dann eine kleine Spedition aufgebaut. Geprägt durch diese Kindheitserinnerungen entschloss sie sich fürs Jurastudium und wurde Anwältin für Migranten. »Mir haben Richter gesagt, ich will ihnen ja helfen, aber das Gesetz sagt etwas anderes, da ist mir klar geworden, das wir die Gesetze ändern müssen«, so beschreibt Cisneros ihre Motivation, nun Parlamentarierin werden zu wollen.

Am Wochenende ist ihr Graswurzelwahlkampf in den Endspurt gegangen, in ihrem Wahlkampfbüro herrschte ein reges Treiben. Rund zwei Dutzend Freiwillige sind gekommen, um beim Wahlkampf zu helfen, keiner der Anwesenden ist über 40. Der ideologische Generationenkonflikt in der Partei, der sich auch bei Bernie Sanders und in dessen starker Unterstützung durch die jungen Generation zeigt, ist auch in der Garfield Street Nummer 1003 sichtbar.

»Laredo wird das wichtigste Schlachtfeld, Cuellar und ich sind beide von hier«, motiviert Cisneros die Freiwilligen. Dann erinnert sie ihre Unterstützer daran, wie »wichtig« ihr Einsatz, wie möglicherweise entscheidend der Haustürwahlkampf ist: »Als Cuellar 2004 zum ersten Mal gewählt wurde, hat er mit nur 58 Stimmen Vorsprung gewonnen. Euer Einsatz könnte den Unterschied ausmachen. Was wir hier machen, ist historisch«. Denn der Test, ob linke Konzepte wie ein Green New Deal nicht nur in liberalen Hochburgen und Städten wie dem Wahlkreis der neuen Ikone der Parteilinken Alexandria Ocasio-Cortez in den New Yorker Stadtteilen Bronx und Queens wählbar sind, und wie groß der Hunger nach »Wandel« ist, findet auch im Süden von Texas statt.

Nach Cisneros Ansprache im Kampagnenbüro schwärmen ihre jungen Unterstützer in die umliegenden Stadtviertel aus. Die sind überwiegend ärmlich, die Häuser sind zum Teil selbst zusammengezimmert. 30 Prozent der Haushalte im Wahlbezirk leben unterhalb der Armutsschwelle, das jährliche Pro-Kopf-Durchschnittseinkommen in Texas 28 liegt bei nur 19 000 US-Dollar. Landesweit kann der Durchschnittsamerikaner über ein monatliches Einkommen von rund 33 000 US-Dollar verfügen. 78 Prozent der Wähler in Texas 28 sind Latinos. Bei der letzten Vorwahl 2018 lag die Wahlbeteiligung bei nur etwa zehn Prozent.

Was sofort auffällt in Laredo, sind die vielen Cuellar-Schilder. Denn die Familie ist einflussreich, stellt auch einen Sheriff und eine Richterin vor Ort. Schilder der jungen Cisneros sieht man hingegen kaum. »Es ist ein System der Schirmherrschaft, viele hier haben Angst sich öffentlich gegen die Cuellars zu bekennen«, sagt Rick Treviño, einer von Cisneros Freiwilligen. Er war 2018 Kandidat der Justice Democrats im benachtbarten Wahlkreis Texas 23, konnte sich in der Vorwahl aber nicht durchsetzen. Er hofft nun auf eine »schweigende Mehrheit« für politischen Wandel in Laredo.

»Ich rede im Haustürwahlkampf einfach darüber, dass die Cuellars schon sehr lange hier sind, sich wenig für arbeitende Menschen verbessert hat und ‚Wandel‘ nötig ist«, sagt Treviño. Doch der ist schwere Arbeit, in einer Stunde klappert der Aktivist etwas mehr als zwei Dutzend Häuser ab, oft erschweren Zäune und kläffende Hunde die Annäherung, Klingeln gibt es hier praktisch nicht, es wird angeklopft.

Cuellar hat seine Herausforderin lange Zeit als chancenlose und nicht Ernst zu nehmende Kandidatin abgetan. Auf den letzten Metern macht er aber doch aggressiv Wahlkampf. Er verfügt dank zahlreicher Spenden von Lobbyisten über eine gut gefüllte Kriegskasse von zwei Millionen US-Dollar. »Möge der Kampf starten, liebe Justice Democrats«, erklärte ein Lobbyist der US Chamber of Commerce herausfordernd gegenüber der »Texas Tribune«. Die Handelskammer und weitere Lobbyisten unterstützen Cuellar zusätzlich mit Anzeigen. In Fernsehspots und Radioanzeigen wird Cisneros als Outsiderin dargestellt, die die Wähler im Bezirk einfach nicht verstehe und eine »Sozialistin« sei, die minderjährigen Frauen Abtreibungen erlauben wolle und den Tausenden Beschäftigten in der Öl- und Gasförderung mit ihrer Unterstützung für einen Green New Deal ihre Arbeitsplätze wegnehmen wolle. In einem Flyer prangerte er gar an, Cisneros wolle New Yorker Pizza und Bagel nach Texas bringen.

Cisneros hält dagegen, lässt immer wieder die Texanerin »raushängen«. Wenn sie redet, hängt sie immer wieder in breitem Akzent ein »y`all« an. Und sie hat prominente Unterstützung und Hilfe durch Nichtregierungsorganisationen: Ber᠆nie Sanders, Elizabeth Warren und alle größeren Gewerkschaften in Texas sowie landesweit tätige Organisationen wie Emilys List, die sonst teilweise mit dem Demokratenestablishment zusammenarbeiten und sich sonst nicht für Herausforderer von Demokraten-Amtsinhabern aussprechen, unterstützen sie. Sie haben ebenfalls Online-Anzeigen und Fernsehspots geschaltet in der Cuellars Positionen und dessen häufiges Abstimmen auf der Linie von Donald Trump kritisiert werden. Dienstagnacht, wenn am Super Tuesday vor allem auf die Vorwahlergebnisse der Präsidentschaftskandidaten geschaut wird, wird sich zeigen, ob der Graswurzelwahlkampf ausreicht und ob es auch in Süd-Texas eine kleine politische Revolution geben wird.

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