Wir fahren, fahren, fahren

Schön, aber auch depressiv: Michael Kröchert lebte ein Jahr für die Autobahn

  • Frank Willmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Bundesrepublik ist zerschnitten. Tiefe Furchen ziehen sich durch die Landschaft. Betonromantik. Die Autobahn ist laut und riecht schlecht, sie ist nur Mittel zum Zweck. Sie spukt durch die Hirne der Menschen, wird erforscht, erweitert, gehasst, geliebt, bekämpft.

• Buch im nd-Shop bestellen
Michael Kröchert: Autobahn – Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum.
Tropen, 242 S., geb., 20 €.

Die Band Kraftwerk schenkte ihr 1974 ihr viertes Studioalbum und sang im Titellied metaphysisch aufgeladen: »Wir fahren, fahren, fahren auf der Autobahn/ Wir fahren, fahren, fahren auf der Autobahn/ Vor uns liegt ein weites Tal/ Die Sonne scheint mit Glitzerstrahl«.

Michael Kröchert hat der deutschen Autobahn nun ein ganzes Buch gewidmet. Er setzte sich ein Jahr lang immer wieder in Kraftfahrzeuge, um Seele und Substanz der Bundesautobahnen auskundschaften, sie zu beschnüffeln, zu bewandern, Geheimnisvolles und Banales zu finden.

Sein Antrieb war Neugier, doch mit viel Respekt für Mensch und Landschaft. In seinem Buch »Autobahn - Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum« drängt er den Leser in keine Richtung. Er erzählt Geschichten, die ihm auf der Autobahn passiert sind, und verziert sie mit eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Fotos. Es ist eine ideologiefreie Langzeitrecherche, die ihn immer wieder auf die Straße führt.

Einmal ist er zu Fuß auf einem Stück Autobahn unterwegs, das noch nicht für den öffentlichen Verkehr freigegeben wurde. Der Text erzählt von und mit dem Schriftsteller Jörg Fauser, der 1987 morgens um vier starb, als er auf der A 94 zwischen den Münchner Stadtteilen Riem und Zamdorf, in Fahrtrichtung der Anschlussstelle Feldkirchen, von einem Lkw erfasst wurde.

»Es war eine einsame Wanderung«, schreibt Kröchert, »nur ab und zu bretterten Lastwagen mit einer Ladung Erde an mir vorbei. Ich begann, mit mir selbst zu reden, leise zu pfeifen, auf mein Handy zu schauen, mich zu langweilen. Ich sah Männer, die oben auf der Böschung Wildzäune montierten, Männer, die neben ihren Lastern standen und warteten, Männer, die in ihren Baufahrzeugen schliefen.« Kröchert webt ein poetisches Band, wenn er über Schutzeinrichtungen wie Stahlschutzplanken oder Betonschutzwände schreibt, dabei kurz die Fahrbahnbefestigung verfolgt, möglicherweise den Beton- oder Asphaltbelag berührt und die Einsamkeit der Autobahnraststätten und Autobahnparkplätze aufsaugt.

Manche Kapitel, wie das über Fauser, das über einen Ausflug in den Hambacher Forst oder das über eine Jugendliebe/Autobahnbrücke, sind bedrückend schön. Andere, wie ein Text über einen Trucker, sind schrecklich depressiv. Wenn Kröchert mit einer Polizeistreife Weihnachten auf der Autobahn unterwegs ist, weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll.

Sein Buch ist aufregend und poetisch, romantisch, banal, trist und schön. Wir erfahren von seltenen Blümchen am Fahrbahnrand, wundern uns in einer Autobahnkirche, nehmen den Trip durch Staus, Unfallstellen und öde Orte. Unter Anwohnerprotesten geht es immer weiter - den ewigen Lindwurm aus Beton entlang. Kauft euch die Schwarte, bevor es zu spät ist!

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.