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Rügen: Blau wie das Meer

Die Urlaubsregionen an der Ostsee sind mittlerweile Hochburgen der AfD. Eine mentale Reise eines exilierten Insulaners nach Rügen

Kein selbstverwaltetes Jugendzentrum, aber immerhin Meerblick: Prora auf Rügen
Kein selbstverwaltetes Jugendzentrum, aber immerhin Meerblick: Prora auf Rügen

Da wohnen, wo andere Urlaub machen.» Mit diesem und ähnlichen Sprüchen werben Immobilienunternehmen seit Jahrzehnten für zu veräußernde Objekte an der Ostsee. Auch mir sind von der Insel Rügen, die ich als dort Einheimischer vor knapp 20 Jahren verlassen habe, die Plakate mit den entsprechenden Aufschriften noch gut in Erinnerung. Ein strahlender Makler vor einer großzügig geschnittenen Wohnung – gut sichtbar auf dem Foto: das Meer.

Heute stellt sich die Frage durchaus anders: Da Urlaub machen, wo jedes zweite Kreuz auf dem Wahlzettel der AfD zugutekommt? Oder gar: Dort wohnen? Wie lebt es sich in einer Hochburg der Demokratiefeinde? In Bergen auf Rügen, der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, gingen 48,6 Prozent der abgegebenen Stimmen an die Rechtsaußen-Partei. Bei der Bundestagswahl 2021 waren es in etwa halb so viele. Das, ahne ich, muss doch Auswirkungen haben, muss spürbar sein in einer Region, auch im öffentlichen und privaten Leben.

Spreche ich mit Menschen vor Ort oder aber mit Freunden und Verwandten, die wie ich vor Jahren fast zwangsläufig die Insel verlassen haben, sitzt die Erschütterung tief – aber auf jemanden, der von diesen Wahlergebnissen wirklich überrascht wäre, stoße ich nicht. Warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich, weil die Schieflagen hier schon lange vorher zu bemerken waren, ehe sie sich in einem solchen Votum niederschlagen konnten.

Man wollte Idyll sein, nicht Problemregion.

Was das mit einem mache, vor die Tür zu gehen und zu wissen, dass jede zweite Person, der man begegnet, die AfD gewählt haben muss – das will ich von einem Rüganer erfahren. Und auch, ob man es von vielen wisse. Der winkt aber ab. Man sehe es den Leuten schon an. Und tatsächlich sei es ja gar nicht jeder Zweite. Bei einer Wahlbeteiligung von weniger als 50 Prozent – auch das ein Zeichen für die Krisenhaftigkeit der Demokratie – seien es deutlich weniger. Würden aber wirklich alle wählen, da ist er sich sicher, fiele das Wahlergebnis wohl noch erschreckender aus. Fatalismus – oder Galgenhumor als letzter Ausweg?

Die Tourismusbranche, unzweifelhaft das ökonomische Fundament der Insel, zeigt sich allerdings weitestgehend unbesorgt. Schon als Kinder witzelten wir und imitierten das breite Sächsisch der Angereisten. Der typische Rügen-Tourist kommt Sommer für Sommer wieder – und das seit Jahrzehnten. Die meisten, die hier ihren Urlaub verbringen, stammen aus Ostdeutschland, viele auch aus Berlin. Ein (post-)migrantisches oder gar internationales Publikum, das sich in Angst versetzt wiederfinden müsste, zieht es ohnehin eher nicht hierher. Was man nie hatte, dessen muss man also auch nicht entbehren. Vermeintliche Stornierungswellen, mit denen Hoteliers zu kämpfen hätten, taugten zwar als Schlagzeilen, aber sie waren mehr Befürchtung denn realistisches Szenario.

Ein paar Tage nach der Wahl sehe ich im «Heute Journal» zufällig meinen ehemaligen Lehrer Karsten Schneider, der mittlerweile seit 14 Jahren Bürgermeister von Binz ist, einem touristenmagnetischen Seebad 16 Kilometer von Bergen entfernt. Er habe, lässt er das Fernsehpublikum wissen, einen Brief erhalten, in dem er gefragt wird, ob es noch gehe, dass man zusammen mit ausländischen Gästen nach Binz reise. Schneider ist sich sicher: «Natürlich geht das noch.» Aber auch: «Genauso gibt’s vielleicht welche, die genau deshalb hierherkommen, weil es hier blau ist. Insofern wird sich das alles ausgleichen.»

Aus Schneiders Worten spricht ein Pragmatismus, der längst in Zynismus umgeschlagen ist. Es ist ein Tonfall, der mir gut vertraut ist und der vielleicht charakteristisch ist für diesen Landstrich und den dortigen Umgang mit den gesellschaftlichen Verwerfungen. Probleme werden nicht einfach ignoriert, sie werden so kleingeredet, dass man sie getrost als abgehakt betrachten kann. Die Reaktionen, die Schneider online hervorruft, sind eindeutig: Der digitale Mob feiert ihn für seine Aussagen und freut sich über eine «ausländerfreie» Urlaubsregion.

Es ist nicht das erste Mal, dass Rügen mit Rechtsextremismus zu tun hat. In den 90er und 2000er Jahren, in die meine Schulzeit dort fällt und die gerne etwas reißerisch als die «Baseballschlägerjahre» tituliert werden, gab es ein ernst zu nehmendes Problem mit Neonazis. Man wusste damals, welche Orte zu meiden waren. Gewalterfahrungen blieben dennoch nicht immer aus. Die NPD verteilte fleißig ihre «Schulhof-CDs». Der Verfassungsschutz hatte mit rechtsradikalen Vereinigungen zu kämpfen. In der Hafenkleinstadt Sassnitz machte man Stimmung mit der Erinnerung an einen angeblichen «Bombenholocaust», der dort stattgefunden haben soll.

Im selben Ort gab es eine einschlägige Szenekneipe. Im nahe gelegenen Stralsund feierte die NPD Erfolge und richtete mitunter auch Straßenfeste für Kinder aus. Von dort wurde das bundesweit rezipierte «Störtebeker-Netz» betrieben, das bald unter dem Namen «Altermedia» agierte und als eine der zentralen Neonazi-Internetplattformen schließlich verboten wurde. Und auch damals wurde wegen extrem rechter Umtriebe vor Rügen als Urlaubsziel gewarnt. Einer wirklichen Auseinandersetzung mit dieser beklemmenden Situation sind Politik und Bevölkerung aber aus dem Weg gegangen. Man wollte Idyll sein, nicht Problemregion.

Die Neonazis von gestern, mit Glatze und Springerstiefeln, sind natürlich nicht deckungsgleich mit der breiten Masse der AfD-Wähler vor Ort heute. Aber der ausbleibende Aufschrei im einen wie im anderen Fall ist eine beachtenswerte Parallele. Und muss es nicht für beide Phänomene gesellschaftspolitische Ursachen geben, die sich auch benennen lassen?

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Die AfD hat überall an Stimmen hinzugewonnen und die parteiübergreifende Stimmungsmache im Wahlkampf, die sich teilweise losgelöst hat von der tatsächlichen Situation im Land, hat überall Eindruck hinterlassen. Rügen liegt in gewisser Hinsicht also auch nur im bundesweiten Trend. Aber dass die extrem rechte Partei mittlerweile nahezu die Hälfte der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen kann, scheint doch Ausdruck einer anderen, einer neuen Qualität zu sein. Früher gehörten gewaltbereite Neofaschisten zum Kleinstadtbild – und doch wurde Angela Merkel, deren Bundestagswahlkreis sich hier befand, zwischen 1990 und 2017 achtmal mit relativer Mehrheit gewählt. Von 2001 bis 2011 hatte Rügen mit Kerstin Kassner eine Landrätin von der PDS beziehungsweise Linkspartei. Heutzutage hat sich Rügen herausgeputzt, von weithin als solche erkennbaren Neonazis keine Spur mehr; dennoch triumphiert die AfD.

Als ich geboren wurde, hatte Bergen gut 18 000 Einwohner. Mittlerweile ist die Bevölkerungszahl um ein Drittel dezimiert. «Wohnen, wo andere Urlaub machen» scheint auch daher ein makabrer Scherz zu sein. Es handelt sich um eine entsiedelte Stadt. Der Geburtenrückgang und der Wegzug haben Spuren hinterlassen. Die Folgen solcher Entwicklungen sind bekannt: Schulen schließen, Nachfolger für Arztpraxen werden vergeblich gesucht, öffentliche Orte der Begegnung verschwinden nach und nach.

Die Massenarbeitslosigkeit, die Anfang der 90er Jahre einsetzte, mag vorüber sein. Die damit einhergehenden Demütigungen haben sich dennoch in den Erfahrungsschatz der Menschen eingeschrieben. Die Angst vor neuerlichen beruflichen Rückschlägen, vor drohender Armut sind – das geht mit dem Wesen von Ängsten einher – vielleicht nicht in jedem Fall berechtigt, aber sie sind im Zweifel wahlentscheidend.

In besonderer Erinnerung ist mir ein Schultag geblieben, an dem man einen Aussteiger aus der Neonazi-Szene eingeladen hatte, um über seine Erfahrungen zu sprechen. Er erzählte davon, wie er beim Pogrom von Rostock-Lichtenhagen – das geografisch und zeitlich in nicht allzu großer Ferne lag – den mordlüsternen Faschisten applaudierte und zujubelte. Kein Lehrer machte sich die Mühe, davor oder danach mit uns Schülern ins Gespräch zu gehen. Bis heute befremdet mich dieses Erlebnis. Schwer zu sagen, welche Eindrücke es in meinen Mitschülern hinterlassen hat.

Opfer von Gewalt oder gar Holocaust-Überlebende hat man, wie es andernorts durchaus nicht ungewöhnlich war, nicht an meine Schule eingeladen. Mit einigen Jahren Abstand lässt sich die große Ratlosigkeit ausmachen, die jene Phase geprägt hat, die heute etwas technokratisch als «Transformationszeit» bezeichnet wird.

Das staatlich organisierte (und reglementierte) Bildungs- und Freizeitangebot für Kinder und Jugendliche in der DDR wurde gemeinsam mit dem untergegangenen Staatswesen beerdigt. In den Zeiten der Wendewirren hat es offenkundig niemand als dringliche Aufgabe verstanden, Abhilfe zu schaffen. Zivilgesellschaftliche Strukturen, wie sie in der alten Bundesrepublik gewachsen waren, konnten nicht über Nacht und nicht von alleine entstehen. Vielleicht liegt hier der Grundstein einer politischen Desorientierung.

Der Blick in die Vergangenheit lädt bekanntlich zu Verklärungen ein. Was zieht so eine Jugend nach sich? War es eine Zumutung, in so einer Gegend aufzuwachsen? So einfach ist es nicht. Als Teenager habe ich mich weggewünscht aus der Provinz und hinein in ein anderes Leben. Aber ist das nicht ohnehin typisch für dieses Alter, vollkommen unabhängig von den konkreten Umständen?

Ich erinnere mich daran, wie mich die rechten Umtriebe empört haben und auch die Indifferenz, mit der man ihnen begegnet ist. Aus dem Widerstand dagegen entstand aber auch ein Gemeinschaftsgefühl. Es war allerdings ein Widerstand auf Zeit, wie ich wusste. Unermüdliche Diskussionen, Demonstrationen, nächtliche Einsätze, um NPD-Plakate zu entfernen, und Gegenangebote zu den Nazi-Kinderfesten haben meine Freizeit gut gefüllt. Das waren zentrale Politisierungserfahrungen, nicht nur für mich, sondern für viele Ostdeutsche meiner Generation.

Wie es hier weitergehen würde, nachdem ich mir einen anderen Lebensort gesucht hatte, war mir nicht völlig egal. Eine zentrale Stellung nahm diese Frage in meinen Überlegungen dennoch nicht ein. Heute drängt sie sich auf. Wie steht es um die, die sich früher noch kämpferisch gezeigt hatten, nach dem Wegzug der letzten geburtenstarken Jahrgänge? Und was bricht sich bei denen Bahn, die damals schon angesichts faschistischer Parolen geschwiegen haben?

Vor einigen Monaten bin ich darauf aufmerksam geworden, dass ein ehemaliger Mitschüler von mir, damals ein eher unbeholfen wirkender junger Mann, politisch arglos, gelegentlich links blinkend, wenngleich ahnungslos auftretend, heute Abgeordneter in der AfD-Landtagsfraktion in Mecklenburg-Vorpommern ist. Ein Beitrag des «Nordmagazins» legt nahe, dass er parlamentarische Gepflogenheiten aufgrund seines Alkoholkonsums nur unzureichend einhalten kann. Keine Frage, abstoßend sind solche Karrieren, von der Burschenschaft zur parteipolitischen Arbeit für den gesellschaftlichen Backlash. Aber wo, frage ich mich, ist dieser Mensch falsch abgebogen?

Einer der Fluchtpunkte in meiner Jugend war der Strand von Prora. Berühmtheit erlangte der kleine Ort als «KdF-Seebad». Die riesige Nazi-Urlaubsanlage wurde später als NVA-Kaserne genutzt. Uns zog der von menschenfeindlicher Ideologie und militärischem Drill befreite Ort an. Hier schien plötzlich vieles möglich. Der Strand war nicht so überlaufen wie andere Teile der Küste. Hier erinnerte nichts an das mondäne Binz oder den abstoßenden und mit dem Tourismus einhergehenden Kommerz. Ein Majakowski-Zitat – «Her mit dem schönen Leben» – hatte Anfang der 90er Jahre erstmals jemand an die Kaimauer gemalt. So oft man die Aufschrift entfernte, tauchte sie doch immer wieder auf. Sie war Ausdruck einer rebellischen Haltung, die aus dem Aufbegehren gegen Nazismus und Provinzialismus ihre Kraft bezog.

Abschnitte des gigantischen Baus in Prora wurden – geschichtsvergessen! – gesprengt und abgerissen. Der größte Teil wurde allerdings privatisiert und in Spekulationsobjekte umgewandelt. Als Rückzugsort für Einheimische dient der Ort schon lange nicht mehr. Luxusurlaub machen, wo Zwangsarbeiter einst die Etagen hochgezogen haben, müsste die neue Losung heißen. In solchen Entwicklungen den einen Grund, den es gewiss nicht gibt, für das Erstarken der AfD zu sehen, wäre sicher falsch. Aber hier fügt sich etwas in ein Gesamtbild: Erst verschwinden die Menschen – und mit ihnen die Freiräume. Am Ende triumphiert die AfD bei den Übriggebliebenen.

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