Rudolf Steiner und ich

An der Waldorfschule ist Steiner sehr präsent, doch man erfährt dort nur sehr wenig über ihn

  • Lea Roth
  • Lesedauer: 6 Min.
Im besten Fall nimmt man es mit Humor: »Händchen falten, Köpfchen senken und an Rudolf Steiner denken.«
Im besten Fall nimmt man es mit Humor: »Händchen falten, Köpfchen senken und an Rudolf Steiner denken.«

Ich habe mein Abitur an einer Waldorfschule gemacht. Damals haben wir uns nach den Prüfungen T-Shirts bedrucken lassen: Vorne prangte das Porträt Rudolf Steiners und auf dem Rücken stand: »Das einzig Wahre war Steiner – Abi 2001«. Wir fanden das lustig. Genauso wie den allseits bekannten Spruch: »Händchen falten, Köpfchen senken und an Rudolf Steiner denken.« Der wurde immer scherzhaft gesagt und wir haben gar nicht gemerkt, dass wir genau das im Prinzip jeden Tag taten. Denn vor Unterrichtsbeginn mussten wir gemeinsam den sogenannten Morgenspruch aufsagen, der bei genauerem Hinsehen ein Gebet aus Steiners Feder ist. Und das beschreibt mein Verhältnis als Waldorfschülerin zu meinem Schulstifter eigentlich ganz gut: Irgendwie war Steiner immer präsent und gleichzeitig wurde er vor uns Kindern ziemlich verheimlicht.

Ich wusste, dass von ihm ein Porträt im Lehrerzimmer hing, genauer gesagt, im Konferenzraum. Die wenigen Male, die ich dort war, fühlte es sich an, als hätte ich einen sakralen Raum betreten, nur dass statt eines Kreuzes ein gerahmter Dr. Steiner an der Wand hing und auf einen herabschaute. Wie sich das Kollegium in diesem Raum gefühlt hat, kann ich nicht sagen, aber in den Schulstunden konnte ich bei vielen Lehrkräften eine Art Hingabe an die Ideen Steiners spüren. Nicht, dass sie konkret von ihm geredet hätten. Das war nicht nötig, um mir als Kind die Ernsthaftigkeit zu vermitteln, mit der sie Steiners Werk begegneten. 2013 gaben in einer Befragung über 80 Prozent der Waldorflehrer*innen an, dass die Anthroposophie für ihre Berufstätigkeit eine große bis sehr große Bedeutung hat.

Selbst von den Lehrkräften, die ihn manchmal den »ollen Rudi« nannten, habe ich nie etwas tatsächlich Kritisches gehört.

Für mich fühlt sich das realistisch an. Viele haben an meiner Schule Anthroposophie geradezu gelebt. Haben sich entsprechend gekleidet, geredet, ernährt und ihren Alltag gestaltet. Es ist die Achtung, die »echte Anthros« innerhalb der Schulgemeinschaft erfuhren, die sich mir eingeprägt hat. Manche von ihnen habe ich dreizehn Jahre lang fast täglich gesehen. Und selbst von den Lehrkräften, die ihn manchmal den »ollen Rudi« nannten, habe ich nie etwas tatsächlich Kritisches gehört. Sie fanden nicht immer alles gut und richtig, aber ihre Haltung Steiner gegenüber war im Kern von Respekt und Ehrerbietung geprägt.

Waldorfschulen legen viel Wert darauf, dass Anthroposophie nicht als Fach unterrichtet wird. Gleichzeitig ist der Lehrplan durch und durch nach anthroposophischen Annahmen und Logiken aufgebaut. Jeder Tag beginnt mit dem »Morgenspruch«, die esoterische Bewegungsform Eurythmie ist zwölf Jahre lang Pflichtfach und die Klassenzimmer sind in vorgegebenen Farben gestrichen. Zudem gibt es einen »Freie Religion« genannten Religionsunterricht, der anthroposophisch geprägt ist, teilweise inklusive Gottesdienst und der sogenannten Konfirmation. Erst in der zwölften Klasse hatten wir es endlich geschafft, den »Oberanthro« an unserer Schule davon zu überzeugen, uns im Religionsunterricht ein paar Basics zu erklären.

So glaubte ich, Rudolf Steiner zu kennen – schließlich bin ich quasi mit ihm aufgewachsen. Allerdings hatte ich außer ein paar gefälligen Zitaten nichts von ihm gelesen, dabei ist die Gesamtausgabe mit über dreitausend Vorträgen, herausgegeben in 354 Bänden, inzwischen online frei zugänglich. Ehrlich gesagt, war ich erst mal ganz schön überwältigt, als ich angefangen habe, darin zu lesen. Das sind solche Massen an Aussagen, die sich teilweise auch widersprechen, dass es schwer ist, einen Überblick zu bekommen. Steiners umständliche Sprache hilft dabei auch nicht gerade.

Die schockierendsten Aussagen waren so übel rassistisch, dass ich sie hier nicht reproduzieren will, aber sie sind leicht im Netz zu finden. Sie stellten für mich alles infrage. Noch weiter vom Glauben bin ich abgefallen, als ich mehr von den »Wahrheiten« gelesen habe, die Steiner »geschaut« haben will. Seine Version der Menschheitsgeschichte klingt für mich immer wieder nach einem Fantasy-Roman: »Früher konnten die Menschen den Nahrungsstoff aus der unmittelbaren Umgebung aufnehmen, so wie heute die Lunge die Luft aufnimmt. Der Mensch war damals durch Saugfäden verbunden mit der ganzen ihn umgebenden Natur (…). Das war die alte Ernährungsform auf der Erde.« Von solchen Fantastereien gibt es Unmengen: Gnome, die sich aus Schwerkraft formen; ein Herz, dass keine Pumpe ist, bis zu unseren Geschlechtsteilen, die in Zukunft abfallen werden, wenn der Kehlkopf zum Fortpflanzungsorgan wird. Und in knapp sechstausend Jahren kommt der apokalyptische »Krieg aller gegen alle«, den nur ein kleines »Häuflein« spirituell vorbereiteter Menschen überstehen wird. Ich schwankte beim Lesen immer wieder zwischen völliger Faszination ob der Abstrusität und verzweifeltem Lachen. Hat denn mein Biologielehrer das geglaubt? Oder mein Geschichtslehrer? Und wenn nicht? Wieso haben sie dann Steiners Pädagogik vertraut?

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Heute kann ich jedenfalls trotz Abitur nicht zuverlässig unterscheiden, welcher Teil meiner Allgemeinbildung dem Stand der Wissenschaft entspricht und was Steiners Hellseherei geschuldet ist. Doof für mich, aber genau so war das anscheinend gedacht. Im Januar 1923 erläuterte Steiner in einer Lehrerkonferenz: »Man müßte das Bewußtsein in den Kindern hervorrufen, daß sie die objektive Wahrheit übermittelt kriegen. Und wenn diese zuweilen anthroposophisch ausschaut, so ist nicht die Anthroposophie schuld.« Gleichzeitig diffamierte Steiner nur zu gern echte Wissenschaftler. Manchmal eher putzig, wenn er sie beispielsweise als ein »Mondkalb« bezeichnete und manchmal hart als eine »Mißgeburt«. Erst wenn das Wissen künstlerische Form annähme, würde ein Wissenschaftler zum »Vollmenschen«, meinte er. Ich wusste zwar, dass wir Waldis, der »materialistischen Wissenschaft« nicht vertrauten, das war auch im Unterricht wahrnehmbar, aber so viel geballte Wissenschaftsfeindlichkeit hatte ich dann doch nicht erwartet.

Was mich weniger überraschte, war, dass dieser Doktor der Philosophie so deutliche Unterschiede zwischen materialistischen und spirituellen Menschen macht. Ich hatte als Waldorfschülerin immer das Gefühl, dass wir nicht nur »die Guten« waren, sondern auch »die Besseren«. Wohl ein klarer Fall von spiritueller Überheblichkeit. Als ich dann aber las, wie Steiner einer Erstklässlerin die Menschlichkeit komplett absprach, war ich dann doch schockiert: »Das sind diese Fälle, die immer häufiger vorkommen, daß Kinder geboren werden (...) die eigentlich in bezug auf das höchste Ich keine Menschen sind, sondern die ausgefüllt sind mit (...) einer Art Naturdämon. (...) Man kann nicht eine Dämonenschule errichten.« Ob dieses Mädchen die Waldorfschule verlassen musste, weiß ich nicht. Überhaupt hat Steiner, der bei uns im Lehrerkonferenzraum von der Wand lächelte, ziemlich viele abwertende Dinge über die Kinder seiner Schule gesagt. Hier eine kleine Auswahl: »Seelischer Regenwurm«, »ausgesprochener Verbrechertypus«, »Psychopathenkinder«, »auf einer Stufe des kälberigen Denkens«, »abscheulich«, »schwachsinnig«, »Bolschewist«, »Krüppelkind«, »in hohem Maße moralisch verdorben«, »von Natur sehr dumm« ...

Je mehr ich also las, desto mehr bröckelte meine Ehrfurcht vor dem verehrten »Herrn Doktor« meiner Kindheit. Und das Vertrauen in meine Waldorfschulbildung bröckelte gleich mit. Mein Abitur ist nicht das Ergebnis einer soliden und fundierten Schulbildung, sondern das Ergebnis von selektivem Binge-Learning für die externen Prüfungen. Und so sehe ich Steiner heute als ein dilettantisches »Galaxy Brain«, der einfach keinerlei professionelle Grenzen kannte und ohne echtes Fachwissen eine Pädagogik, eine »Medizin«, eine Landwirtschaft und eine Gesellschaftsordnung entwickelte, an denen sich seine Anhänger*innen bis heute abarbeiten.

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