Wie erschafft man politische Zombies?
Von der Französischen Revolution in die Restauration: »Die Armee der Schlafwandler« von Wu Ming
Das italienische Autorenkollektiv Wu Ming gibt es seit über 20 Jahren, doch seine historischen Abenteuer-Politromane sind hierzulande noch immer Geheimtipp. In den größeren Zeitungen werden diese Bücher kaum besprochen.
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Wu Ming: Die Armee der Schlafwandler.
A. d. Ital. v. Klaus-Peter Arnold. Assoziation A, 704 S., geb., 28 €.
Ursprünglich waren Wu Ming fünf Schreiber, die aus der Postautonomen-Szene Bolognas stammten, seit 2008 sind sie zu viert. 1999 veröffentlichten sie, damals noch unter dem Namen Luther Blisset, ihren Debütroman »Q« über die Bauernkriege und kollektive Widerstandsformen der frühen Neuzeit. Unter Linksradikalen, vor allem in Italien, lösten sie damit fast schon so etwas wie einen Hype aus, ließ sich das Buch doch als Allegorie auf die Kämpfe der Anti-Globalisierungs-Bewegung lesen. Die eine oder andere Kampfparole aus dem Roman fand sich plötzlich als Graffito an Hauswänden wieder.
Der nun auf Deutsch vorliegende Roman »Die Armee der Schlafwandler« ist in Italien, wo er schon 2014 erschien, ihr bisher erfolgreichstes Buch. Das gut 700 Seiten lange Opus, in dem es um die Französische Revolution geht, markiert nach Angaben der Autoren auch das Ende eines Zyklus historischer Romane, der von den Bauernkriegen über die Amerikanische Revolution bis hin zum Vietnamkrieg reicht.
»Die Armee der Schlafwandler« setzt 1793 mit der Enthauptung Ludwig XVI. ein und endet zwei Jahre später, erzählt also von der Zeit des jakobinischen Terrors und der danach einsetzenden Konterrevolution. Wie üblich bei Wu Ming tritt ein umfangreiches Personal historischer Akteure auf, die in der Geschichtsschreibung sonst kaum vorkommen. Da gibt es Arbeiter, die in Kneipen herumpolitisieren, während die Guillotine täglich im Dauereinsatz ist. Näherinnen und andere Frauen verbünden sich und nehmen nicht nur an den revolutionären Kämpfen teil, sondern mischen sich auch im Konvent ein, wo die männlichen Politiker tagen und Gesetze beschließen. Aber auch Schauspieler, Bettler, Poeten und andere Bewohner der subalternen Quartiere treten auf.
Die Bücher von Wu Ming stellen eine Historiografie von unten dar, sie sind quasi eine literarische Umsetzung des unter anderem von Antonio Negri und Michael Hardt propagierten Konzepts der »Multitude«. Das heißt aber nicht, dass es keine prominenten Figuren wie Danton, Marat oder Robespierre geben würde. Es finden sich zahlreiche Revolutionäre wie auch Royalisten in diesem vielstimmigen Roman, der wie ein Theaterstück in fünf Akten angelegt ist.
Mehr noch als in ihren anderen Büchern ziehen Wu Ming hier stilistisch unterschiedliche Register. Mal entwickelt sich wie im Drama die Handlung ausschließlich in Dialogen, dann gibt es wieder epische Beschreibungen des frühneuzeitlichen Paris. Elemente der Commedia dell’Arte finden sich neben historischen Gesetzestexten, Parlamentsmitschriften und Auszügen aus wissenschaftlichen Quellen. Das Buch wird überdies bevölkert von urbanen Legenden aus dem revolutionären Paris des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Zum einen ist da Scaramouche, eine Art frühneuzeitlicher Superheld, der mit Cape und Maske über die Dächer von Paris gelaufen sein soll und in zahlreichen alten Texten auftaucht. Als Rächer der hungernden Armen verprügelte er preistreibende und Waren hortende Lebensmittelhändler und lieferte sich handfeste Auseinandersetzungen mit den konterrevolutionären Banden der »jeunesse doree«.
Hinter diesem proletarischen Helden, der nachts die Kapitalisten heimsucht, steht im Roman der erfolglose italienische Schauspieler Leo Modonnet, der wie die Autoren aus Bologna kommt, in Konflikt mit den Behörden gerät, obdachlos wird, schließlich den Kampf um Gerechtigkeit in die eigene Hand nimmt und dafür von seinen armen Nachbarn geliebt und verehrt wird. Überhaupt sind die Lebensmittelpreise und die Frage, wie sehr der Staat in die Ökonomie eingreift, ein immer wiederkehrendes Thema, das schon damals die politischen Debatten bestimmte. Regelmäßig kam es zu Plünderungen, die auch im Roman als Akte subalterner kollektiver Aneignung in Szene gesetzt werden. Wobei Wu Ming vor allem die Rolle der Frauen bei diesen Aktionen in den Vordergrund stellen.
Die Figur des Scaramouche stammt ursprünglich aus der Commedia dell’Arte. Die titelgebende »Armee der Schlafwandler« beschreiben Wu Ming mit den Mitteln des magischen Realismus, wenn auch in homöopathischen Dosen. Es geht um die Legende unbesiegbarer, schmerzunempfindlicher und wie Automaten agierender konterrevolutionärer Schläger, von denen in historischen Texten immer wieder berichtet wird.
Immerhin bietet das Autorenkollektiv hierfür eine quasi-wissenschaftliche Herleitung an. Denn in der weitschweifenden Erzählung spielt der Mesmerismus, also die zu jener Zeit viel beachtete Vorstellung elektrischer Energien und eines weltumspannenden Fluidums, eine wichtige Rolle. Damit einher ging die moderne Erfindung der Hypnose. Im Roman rekrutiert ein Royalist, der sich nach dem gescheiterten Befreiungsversuch von Ludwig XVI. in einer psychiatrischen Klinik nahe Paris versteckt, schließlich zahlreiche Männer, um mit diesen zombieartigen Banden gegen Jakobiner und Sansculotten zu kämpfen und deren Lokale in den heruntergekommenen Quartieren anzugreifen, während sich der politische Wind im nachrevolutionären Frankreich zugunsten der Restauration dreht.
Natürlich lässt sich dieser actionreiche Roman, in dem man die skandierenden Rufe protestierender Arbeiter gegen überhöhte Lebensmittelpreise regelrecht zu hören meint und in dem der urbane solidarische Mob gegen junge Gecken der Konterrevolution kämpft, auch als Allegorie auf aktuelle Ereignisse lesen. Die »Schlafwandler« als ideologisch narkotisierte Menge, die sich je nach Belieben steuern und instrumentalisieren lässt und empathielos für die Konterrevolution marschiert, ist eine albtraumhafte Metapher für die Neue Rechte, aber auch andere populistische Strömungen wie die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien.
Mit diesem Roman schließen Wu Ming einen Kreis, der vom eingangs erwähnten Roman »Q« als Begleitmusik zur Anti-Globalisierungs-Bewegung bis zu diesem neuen Opus über Revolution und Konterrevolution reicht. Alle ihre historischen Romane reflektieren aktuelle politische Ereignisse und Entwicklungen.
In ihrem nächsten Buch, an dem sie gerade schreiben, wird es um die kämpferischen 1970er Jahre in Italien gehen. Wenn das Buch, wie zu erwarten, in drei Jahren auf Deutsch erscheint, könnte es im hiesigen Feuilleton etwas mehr Beachtung finden. Schließlich ist Italien dann Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Florian Schmid
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