Quäl dich, Alter!

FLATTERSATZ: Bernd Zeller über sportliche Senioren und den Versuch, statt der Natur sich selbst zu überlisten

  • Bernd Zeller
  • Lesedauer: 3 Min.

Für unseren heutigen Bericht haben wir eine gute Nachricht gefunden: Immer mehr Senioren beginnen im Alter mit sportlicher Aktivität. Das ist das Titelthema des Nachrichtenmagazins »Focus« und als Nachricht jetzt vielleicht nicht doll, aber immer noch die beste, die es gab. Darum wollen wir beleuchten, was das über Senioren und über Sport aussagt und über die Gesellschaft, die so was zulässt. Nicht den Seniorensport, sondern auch das Nachrichtenmagazin.

Das moderne Nachrichtenmagazin »Focus« hat demnach alle menschlichen Organe behandelt und alle Gelenke und jeden Muskel, dazu für alles die 500 besten Mediziner aufgelistet, so dass jetzt die Kombinationen drankommen (Darm im Alter oder Lebertraining in der Mittagspause). Und zwar im noch besseren Job, den man mit dem passenden individuellen Erfolgskonzept gefunden hat und sogar antreten konnte, weil man an sich glaubt und im Vorstellungsgespräch die perfekte Performance geliefert hat.

Früher zog für den Hefttitel noch ein Thema mit Bezug zu Sex beziehungsweise Sex mit Bezug zu einem Thema, aber inzwischen hat man von dem Sexgerede so viel abgekriegt, dass man kaum mehr in der Partnerschaft damit konfrontiert werden will. Essen wurde schon als Sex des Alters erkannt, was unweigerlich zu der Frage führt, ob man bereit wäre für die Einsicht in die Notwendigkeit, Sport zu machen.

Betrachtet man die politische Dimension dieses Titelthemas - und das sollte man tun, da die Presseorgane sich gern in politische Abhängigkeit begeben möchten, weil sie sich davon finanzielle Sicherheit versprechen -, geht man also davon aus, dass das Thema nicht zufällig gewählt ist, sondern einer politischen Erwägung entspringt, dann ist der Verdacht weder bestätigt noch widerlegt, dass das bisher häufig behandelte Thema Altersarmut allmählich ersetzt werden sollte durch Bewegungsarmut im Alter. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sämtliche Minister und Sozialexperten in den Talkshows lieber Bewegungstipps geben, als zur Rente befragt zu werden. Außerdem können fitte Rentner sich leichter was dazuverdienen.

Es kann natürlich auch sein, dass man beim »Focus« gar nicht so weit denkt und einfach irgendwas Positives auf den Titel bringen wollte in der Erwartung, das verkaufe sich besser als irgendetwas, das von einem Nachrichtenmagazin erwartet werden könnte. Denn es ist natürlich auch so, dass vieles, was früher als Untätigkeit angesehen wurde, heute als Sport gilt oder als eine Form von Anstrengung.

Es gibt kein sinnloses Herumsitzen mehr, sondern nur noch sogenanntes Chillen. Es ist äußerst verwunderlich, dass noch kein Extremchillen eingeführt wurde. Rechenleistungen eines mobilen Endgerätes oder des mit ihm vernetzten Datenverarbeitungsknotenpunktes erscheinen den Personen, die auf dem Display herumwischen, als eigene Aktivität. Lässt man auch noch die Schritte mitzählen, ist man von der Zahl, wie niedrig sie auch sein mag, beeindruckt und glaubt, das Beeindrucktsein verbrauche noch einmal Kalorien.

Wenn wir nun auf die Senioren blicken, zumal auf die sportlich aktiven, müssen wir feststellen, dass der »Focus« eine Taktlosigkeit begangen hat. Denn als alt wollen sie sich ja gerade nicht sehen. Man ist jung, nur im falschen Körper. Aber immerhin verfügt man über die geistige Reife, sich nicht Muskeln anoperieren und sich nicht das Herz straffen zu lassen, damit es einen jugendlichen Puls schlägt. Die Natur lässt sich nicht überlisten, also überlistet man sich selbst und unternimmt sogar sportliche Bemühungen, nur um sich sportlich zu fühlen.

Ein geschlechtsspezifischer Unterschied wird allerdings von der Gesellschaft konstruiert, der sich in geschlechtsspezifischen Beziehungen bemerkbar macht: Frauen sehen heute immer zehn Jahre jünger aus, als sie sind, wogegen Männer zehn Jahre älter sind, als sie aussehen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.