Absage an europäische Champions

In der neuen EU-Industriestrategie werden Wettbewerbskontrollen gelockert, aber nicht ausgehebelt

  • Peter Eßer, Brüssel
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Aufschrei war groß, als die EU-Kommission vergangenes Jahr die Fusion der Bahnsparten von Alstom und Siemens untersagte. Der französische und der deutsche Industriekonzern wollten sich damals mit Rückendeckung aus Paris und Berlin zusammentun. Erklärtes Ziel: einen europäischen Champion schaffen, um mit der staatlich unterstützen Konkurrenz aus China mithalten zu können. Doch die Brüsseler Wettbewerbshüter in Person der dänischen EU-Kommissarin Margrethe Vestager fürchteten die Folgen des dadurch entstehenden Quasi-Monopols für kleinere heimische Firmen und untersagten die Fusion.

Weitgehende Einigkeit herrschte allerdings darüber, dass angesichts des sich wandelnden Weltmarktes etwas geschehen muss, damit Europa industriell nicht abgehängt wird. Auch Ursula von der Leyen nahm diesen Faden im Sommer vor ihrer Wahl zur Kommissionspräsidentin im Werben um die Gunst des Europaparlaments auf. Bei ihrem Amtsantritt im Dezember kündigte sie eine umfassende Industriestrategie an. Am 101. Tag ihrer Amtszeit wurde dieses dieses Papier nun vorgelegt.

Herausgekommen sind zunächst eine Menge Vorhaben, auf die konkrete Initiativen erst noch folgen müssen. Erkennbar ist aber, dass es auf absehbare Zeit keinen Paradigmenwechsel weg von strenger Fusionskontrolle geben wird. Der Fokus soll auf »den wettbewerbsverzerrenden Auswirkungen ausländischer Subventionen im Binnenmarkt« und »dem ausländischen Zugriff auf öffentliche Aufträge in der EU und auf EU-Mittel« liegen, wie es im Papier steht. Soll heißen, die Regeln werden für ausländische Akteure verschärft, anstatt sie für inländische zu lockern.

Die Wettbewerbsvorschriften in den Bereichen Fusionskontrolle und staatliche Beihilfe sollen zwar auch überarbeitet werden, allerdings vor dem Hintergrund einer »zunehmend digitalen Wirtschaft, die umweltfreundlicher und kreislauforientierter sein muss«. Etwa will die Kommission eine »Allianz für sauberen Wasserstoff« ins Leben rufen: Bei Erforschung und Entwicklung von Wasserstoff-Technologien soll EU-grenzüberschreitend zusammengearbeitet und investiert werden.

Margrethe Vestager ist zwar immer noch Wettbewerbskommissarin und zusätzlich mittlerweile zur Vizepräsidentin mit Zuständigkeitsbereich Digitales aufgestiegen. Nach der harschen Kritik aus Deutschland und Frankreich am Fusionsverbot für Siemens und Alstom waren aber Zweifel an ihrem Handlungsspielraum in der neuen Kommission aufgekommen. Nicht zufällig hatte die CDU-Politikerin von der Leyen der liberalen Kollegin zwei einflussreiche Bewacher an die Seite gestellt: Industriekommissar Thierry Breton kennt sich als ehemaliger Chef eines Digitalkonzerns und als französischer Wirtschaftsminister sowohl mit Wirtschafts- als auch mit Pariser Interessen bestens aus. Der allgemein für Wirtschaftsfragen zuständige lettische Kommissionsvize Valdis Dombrovskis gilt als verlässlicher Verfechter einer stockkonservativen Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Breton hatte sich in den vergangenen Wochen bereits vom Narrativ der »europäischen Champions« distanziert. Er bevorzuge den Ausdruck »Leader« - führend sollten die europäischen Firmen sein. »Ich will vor allem fairen Wettbewerb«, sagte er nun und nahm damit Vestagers Mantra auf. Die Dänin konnte sich ihrerseits einen Seitenhieb nicht verkneifen: »Man baut einen starken Champion auf, indem man jedem eine faire Chance gibt«, befand sie.

Eine faire Chance verdienen demnach besonders kleine und mittelgroße Unternehmen. Den sogenannten KMU widmet das Strategiepapier einen eigenen Teil. Administrative Hürden hielten kleinere Unternehmen nach wie vor davon ab, im selben Maße wie die großen Player vom gemeinsamen europäischen Markt zu profitieren, heißt es dort. Deshalb soll Bürokratie abgebaut und innovativen Unternehmen die Finanzierung erleichtert werden. »Wir schlagen vor, dafür einen KMU-Beauftragten der EU zu ernennen«, sagte Kommissionsvize Dombrovskis.

Berlin und Paris zeigten sich begeistert. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) sprach von einem »großen Erfolg« und verwies darauf, dass er selbst die Strategie angestoßen habe. In einem gemeinsamen Schreiben mit Amtskollegen aus acht Ländern, darunter Frankreich, begrüßte er den Plan, »mehr europäische Mittel für strategische Wertschöpfungsketten, Schlüsseltechnologien und bahnbrechende Innovationen bereitzustellen«.

Für den DGB greift die neue Industriestrategie der EU-Kommission an entscheidender Stelle, »nämlich bei der Finanzierung«, viel zu kurz. Die EU müsse selbst massiv zusätzliches Geld in den sozial-ökologischen Umbau investieren. Der Umweltstiftung WWF begrüßte, dass Klimaschutz und Klimaneutralität eine »große Rolle« in der Strategie spielten. »Jetzt gilt es, die Instrumente einzuführen, mit denen die EU-Kommission diese Ziele erreichen will.« Der Linke-Europaabgeordnete Cornelia Ernst erklärte, es sei »richtig, die strikten Wettbewerbsregeln auf den Prüfstand zu stellen«. Allerdings müsse die EU ihre Industriestrategie stärker auf den sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft ausrichten.

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