Die Banalität der »Verbrannten Orte«

Jan Schenck erinnert mit einem Atlas an Plätze der NS-Bücherverbrennung – ehrenamtlich.

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.

In der Ginkgo-Apotheke am Wettiner Platz in Dresden gibt es nichts mehr zu kaufen. Das sieht man auf einem Foto von Jan Schenck. Die Schaufenster, in denen einst vielleicht Rheumasalbe und Hustendragees angepriesen wurden, sind mit Plakaten zugeklebt, die etwa für einen Auftritt von »DJ Divinity« werben. An den Sockel des Gründerzeithauses haben Fußballfans das Jahr gesprüht, in dem ihr Klub gegründet wurde. Menschen sind auf dem Bild nicht zu sehen, das eine höchst alltägliche, um nicht zu sagen: banale Szene zeigt. Die Frage darf gestellt werden: Warum diese Aufnahme?

Schenck hat in sieben Jahren viele solcher scheinbar nichtssagenden Straßenszenen fotografiert: ein leeres Parkdeck in Rostock; ein Backsteinhaus in Flensburg voller Graffiti; ein grünes Holzhäuschen an einer engen Straße auf Helgoland; ein Stadiontor; ein Park, in dem Strandkörbe im Regen stehen; ein Freibad. Ein Foto aus dem sächsischen Pirna zeigt die Eingangstür einer Physiotherapie-Praxis, einen Fahrradständer aus Metall, Mülltonnen. Wenn die Fotos in einer Ausstellung oder auf Schencks Homepage nebeneinander stehen, verbreiten sie, nicht zuletzt wegen der Abwesenheit von Passanten, ein Gefühl von Tristesse. Was all diese Orte dazu prädestinierte, sie im Foto und teilweise in Panoramaaufnahmen festzuhalten, bleibt für unwissende Betrachter ein Rätsel.

Schenck allerdings geht es genau darum, unwissende Betrachter zu einem neuen Blick zu bewegen. Seine Frage lautete: »Betrachten wir diese Orte anders, wenn wir wissen, was dort passiert ist?« Passiert ist in allen Fällen: Terror. Einschüchterung. Eine Demonstration von Macht. Das Mittel: die Verbrennung von Büchern. Ob am Eingang der Lummenstraße in Helgoland, in der Breiten Straße in Pirna oder in der Stampfmüllerstraße in Rostock, die einst Friedrich-Hildebrandt-Platz hieß: An all diesen Stellen verbrannten die Nationalsozialisten nach ihrer Machtübernahme im Jahr 1933 Bücher. Das erste derartige Fanal fand vor gut 87 Jahren in Dresden statt, als der Gründerzeitbau am Wettiner Platz den Verlag der »Dresdner Volkszeitung« beherbergte und in der späteren Ginkgo-Apotheke eine linke »Volksbuchhandlung« residierte. Die der SPD gehörende Zeitung hatte bereits mehrere Tage nicht mehr erscheinen dürfen. Nun holten Angehörige von SA und Schutzpolizei aus dem Haus schöngeistige Bücher und SPD-Parteiliteratur, Zeitungen, Karteikarten, Dokumente und Fahnen und türmten auf dem Platz einen Scheiterhaufen. Das Feuer loderte vom Nachmittag bis in den Abend. Es sollte drei Tage nach einer Reichstagswahl, bei der die NSDAP die absolute Mehrheit verfehlt hatte, ein Signal senden: »Alle, die sich ihrem Machtrausch in den Weg stellten«, heißt es in einem Text des Kulturbüro Sachsen e.V., sollten »zerschlagen werden«.

An die Bücherverbrennung auf dem Wettiner Platz, eine von drei allein in Dresden, erinnert bereits seit 1948 eine Gedenktafel. »Die Feuer der Tyrannei brennen, die Feuer der Freiheit leuchten«, steht darauf. Auf der Panoramaaufnahme, die Schenck angefertigt hat, ist sie neben einer von Firmenschildern gesäumten Hofeinfahrt zu erkennen. An vielen anderen Orten nationalsozialistischer Bücherverbrennungen gibt es aber keinerlei Hinweis auf das historische Geschehen: keine Tafel, keine Stele. Das führt dazu, dass viele der Ereignisse vergessen sind. Wenn er seine auffällige Studiokamera an solchen Orten aufstellt, erntet er bei Passanten überraschte Reaktionen. »Es gibt vielfach keine Erinnerung mehr«, sagt er.

Mit der Kamera ist Schenck unterwegs, weil er alle Orte von NS-Bücherverbrennungen in einem Atlas im Internet festhalten möchte, verbunden mit Fotos und Links zu historischen Quellen. Die Idee entstand, als er ein Buch zum Thema las. Er erschrak zum einen darüber, wie viele von ihm geschätzte Schriftsteller auf der 131 Autoren umfassenden »Liste des undeutschen Geistes« standen, anhand derer ab dem 10. Mai 1933, oft organisiert von Studenten, in einer reichsweiten konzertierten Aktion Bücher zum Beispiel aus Bibliotheken verbrannt wurden. Sein Interesse wurde aber auch durch die verblüffend große Zahl an Städten geweckt, über die in der Publikation berichtet wurde. Etwa 90 waren bekannt, als er Anfang 2013 den Vorsatz fasste, möglichst viele der Orte zu dokumentieren. Er startete ein Crowdfunding, bei dem innerhalb von 40 Tagen 3385 Euro gespendet wurden, und ging im April desselben Jahres in Mecklenburg-Vorpommern auf eine erste Fotoreise für das Projekt. Dessen Titel: »Verbrannte Orte«.

Sieben Jahre später ist klar, dass es in der Bundesrepublik weit mehr dieser »verbrannten Orte« gibt, als zuvor bekannt war. »Inzwischen sind etwa 110 solcher Aktionen dokumentiert«, sagt Schenck. Auf eine stieß er, als er bei Recherchen in Thüringen über einen kurzen Eintrag auf der Seite der Stadtbibliothek Kahla stolperte. Diese verwies ihn auf Nachfrage an das Stadtarchiv, das dann Kontakt zu einem Lokalhistoriker herstellte. Bei einer Recherchereise im Januar 2019, die ihn durch Thüringen führte, suchte Schenck mit diesem zusammen den vermuteten Ort der Bücherverbrennung auf. Heute befindet sich an der Stelle das Freibad der Porzellanstadt. Bei der Reise wurde er durch einen zufälligen Hinweis auch auf das nur 2100 Einwohner zählende Städtchen Hirschberg am Oberlauf der Saale aufmerksam - wo ebenfalls Bücher verbrannt worden waren. Von der Aktion existierte ein historisches Foto. Weil die Stadt »glücklicherweise recht übersichtlich« ist, habe er den Platz nahe der Kirche schnell ausfindig gemacht, sagt er.

Schenck hat solche Reisen in den sieben Jahren seit der ersten Idee mehrfach unternommen: nach Sachsen, nach Norddeutschland; dieses Jahr stehen Hessen und Rheinland-Pfalz auf dem Plan. Manchmal kann er sich auf gute Informationen stützen; für Thüringen etwa gibt es eine fundierte Publikation der Landeszentrale für politische Bildung, die er quasi als »Reiseführer« nutzte; in Rheinland-Pfalz hat eine Doktorandin schon einmal zu Bücherverbrennungen geforscht. In anderen Regionen ist die Materiallage dagegen extrem dünn. Dieser Tage etwa war eine Ausstellung mit Bildern von »verbrannten Orten« in Halle (Saale) geplant gewesen, die nun freilich abgesagt wurde. In der Stadt ist eine Verbrennung vor der Universität belegt. Ansonsten weiß man für Sachsen-Anhalt nur von einer Aktion in Magdeburg bereits im April 1933. Das scheint sehr wenig zu sein im Vergleich zu Thüringen mit mindestens acht Aktionen. Doch Schenck weiß: »Die Dunkelziffer ist noch immer sehr hoch.«

Er würde gern daran mitwirken, sie zu verkleinern und das Wissen um die Bücherverbrennung sowie die Erinnerung daran zu fördern. Jan Schenck freut sich, wenn seine Arbeit dazu führt, dass sich Engagierte in den jeweiligen Orten stärker für das Thema interessieren oder in Kontakt mit Gleichgesinnten anderswo treten; oder wenn seine Arbeit, wie jetzt in Jena, dazu beitragen kann, neue Erinnerungsorte an diesen Ausdruck des NS-Ungeistes entstehen zu lassen. Das Problem ist freilich: Seine zeitlichen und noch mehr seine materiellen Möglichkeiten sind begrenzt. Derzeit sieht es sogar so aus, als könne das langjährige Engagement für die »Verbrannten Orte« ihn in existenzielle Schwierigkeiten bringen.

Grund dafür ist, dass Schenck neben Urlaub und Freizeit auch sehr viel eigenes Geld in das Vorhaben gesteckt hat. Zwar wurden einige der Recherchen gefördert, so in Thüringen durch die Staatskanzlei. Zwar hat Anfang 2015 zudem ein vielfältig engagierter Verein aus dem Wendland namens »Kommunikationszentrum Meuchefitz e.V.« auch sein Projekt unter die Fittiche genommen, wodurch Förderanträge gestellt werden können. Doch der Aufwand, etwa für die großformatigen Fotos für Ausstellungen, Stände bei Messen oder Postkarten, die er bei Vorträgen verteilt, ist hoch. Schenck verdient sein Geld eigentlich im Sommer als Erlebnispädagoge für Jugendliche und im Winter mit dem Beschneiden von Obstbäumen. In den letzten Jahren aber habe er sich in der kalten Jahreszeit auf den Atlas konzentriert, um dem Projekt rund um den 85. Jahrestag der Bücherverbrennungen noch einmal Schwung zu verleihen. Dafür hab er seine Ersparnisse aufgebraucht, sagt er. In diesem Jahr nun scheint auch das zweite Standbein wegzubrechen. Wegen der Corona-Krise sind die Schulen zu, Klassenfahrten finden nicht statt. Schenck drohe »im schlimmsten Fall ein kompletter Verdienstausfall bis zum Sommer«, heißt es in einem Aufruf von »Meuchefitz«, dessen Ziel es ist, das Projekt auf eine solidere materielle Basis zu stellen.

Das war ohnehin geplant: Anfang des Jahres wurde ein Trägerverein für »Verbrannte Orte« gegründet, der Bildungsarbeit rund um das Thema NS-Bücherverbrennungen leisten soll. »Die Größe und die Resonanz auf das Projekt haben das erforderlich gemacht«, sagt Schenck. Der Verein soll auch Fördermitgliedschaften ermöglichen; diese und andere Mittel sollen es erlauben, einen 460-Euro-Job für Schenck zu schaffen. Doch der Verein ist zwar formell gegründet, aber noch nicht bei Gericht eingetragen. Derweil werden die Planungen von der aktuellen Lage überholt. Bei »Meuchefitz« hofft man nun, die Stelle durch Spenden einrichten zu können. Für den Verein als Arbeitgeber entstünden Kosten von 550 Euro, heißt es; man hoffe also auf »100 Menschen, die 5,50 Euro pro Monat übrig haben und die wichtige Arbeit unseres Gedenkprojekts unterstützen wollen« - am liebsten, wie hinzugefügt wird, »über einen längeren Zeitraum«.

Vielleicht gelingt es auf diese Weise, den »Atlas der Verbrannten Orte« zu vervollständigen. Für die NS-Bücherverbrennungen gibt es zwar Denkmäler, so auf dem August-Bebel-Platz in Berlin, wo 1995 ein weißer Kubus mit leeren Bücherregalen in den Boden eingelassen wurde. Eine Gedenkstätte mit Bildungsangeboten aber existiert nicht. Der Atlas, sagt Schenck, »könnte diese Funktion übernehmen«. Und zeigen, wo das NS-System seine Macht demonstrierte und Gegner einschüchterte: an alltäglichen Orten überall im Land.

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