Arbeitsrecht gilt auch in der Krise

Der Berliner NGG-Chef Sebastian Riesner kritisiert das Verhalten der Hoteliers scharf

  • Jörg Meyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie geht es der Hotel- und Gaststättenbranche zurzeit in Berlin?

Im Gastgewerbe spitzt sich die Situation dramatisch zu. Einige Betriebe haben den Geschäftsbetrieb schon eingestellt, andere stehen unmittelbar davor. Im Hotelgewerbe sind große und kleine Häuser gleichermaßen betroffen, weil sie keine touristischen Gäste mehr beherbergen dürfen. Dass sie teilweise versucht haben, das mit Geschäftsreisenden aufzufangen, hat auch nur zu einer Auslastung von sieben bis acht Prozent geführt. Als Beispiel: Das Park Inn am Alexanderplatz hat Hunderte Betten und zuletzt vielleicht noch ein gutes Dutzend Gäste. Ergebnis: Arbeit im absoluten Notbetrieb. Trotzdem versuchen dort Geschäftsleitung und Betriebsrat, es sozialverträglich zu gestalten.

Zur Person

Sebastian Riesner (55) ist Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) der Region Berlin-Brandenburg. Der in Frankfurt (Oder) geborene Gewerkschaftssekretär ist gelernter Koch und leitet die NGG-Region seit Mitte 2019. Riesner ist dabei unter anderem zuständig für Hotels, Gaststätten, Catering, System- und Betriebsgastronomie sowie die Getränkewirtschaft.

Welche Folgen hat die aktuelle Situation für die Beschäftigten?

Die Hotels, Gästehäuser und Pensionen schließen nach und nach. Die Betriebsgastronomie ist immer stärker betroffen, weil die Unternehmen ihre Produktion runterfahren oder schließen. In der Systemgastronomie sind teilweise nur noch Drive-Ins geöffnet. Die Auswirkungen der Pandemie ziehen sich wie ein roter Faden durch alle unsere Branchen. Die Schließung der Restaurants in Berlin und Brandenburg wird die Situation im Gastgewerbe noch einmal drastisch verschärfen.

Über wie viele Beschäftigte reden wir im Berliner Gastgewerbe?

Inklusive der geringfügig Beschäftigten sind das über 100 000 Menschen. Besonders die sogenannten Minijobber trifft es hart, weil sie kein Kurzarbeitergeld bekommen können. Die Einkommen sind aber insgesamt teilweise so niedrig, dass die Menschen vom Kurzarbeitergeld nicht leben können.

Der NGG-Vizevorsitzende Freddy Adjan hat vorige Woche kritisiert, der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) lasse die Beschäftigten im Regen stehen. Ist das so?

Als deutlich wurde, dass eine größere Krise auf uns zukommt, haben wir den Arbeitgebern angeboten, mit uns über Tarifverträge für ein verbessertes Kurzarbeitergeld zu sprechen. Der DEHOGA hat uns signalisiert, dass sie nicht bereit sind, auch nur einen Cent von den bestehenden 60 Prozent des Nettos aufzustocken. Scheinbar meinen einige Gastronomen, die Beschäftigten würden doch genug verdienen, um sich was anzusparen. Diese Blockadehaltung kam in erster Linie aus den Mitgliedsbetrieben, auch wenn es hier sicherlich einzelne wirklich positive Ausnahmen gibt. Aber bei den Großen: Null Bereitschaft, wirklich keine.

Gerade die großen Häuser hätten aber doch das Geld? Sie gehören ja häufig zu global agierenden Ketten ...

… die in den letzten Jahren vor allem Gewinne rausgezogen und ins Ausland gebracht haben. Diese Unternehmen schreien jetzt als erstes danach, dass der Staat ihnen mit Steuermitteln helfen soll. Aber sie waren nicht bereit, in diesem Land Steuern zu bezahlen oder Gewinne hier zu investieren. Wir haben mit dem Arbeitgeberverband in der Systemgastronomie, dem BdS, in kürzester Zeit einen Tarifvertrag abgeschlossen, nach dem sie das Kurzarbeitergeld auf 90 Prozent aufstocken. Das rechnen wir dem BdS hoch an. Das hat den Belegschaften viele Ängste genommen. Alle die das nicht gemacht haben, sollten beschämt in die Ecke gucken und nicht öffentlich Hilfe aus Steuermitteln fordern.

Wie ist die Situation in den Betrieben?

Wir hören immer häufiger von dubiosen Regelungen, die die Arbeitgeber vorlegen. Teilweise werden die Betriebsräte regelrecht dazu erpresst, schlechte Vereinbarungen zur Kurzarbeit zu unterschreiben - oder sie seien dafür verantwortlich, dass das Unternehmen schließen müsste. Einige Arbeitgeber scheinen die Situation als Freibrief zu sehen, die Mitbestimmungs- und Arbeitsrechte abzuwickeln. Es gibt fristlose betriebsbedingte Kündigungen, die aus unserer Sicht illegal sind. Teilweise stellen die Arbeitgeber ihren Beschäftigten bei der Kündigung noch die Wiedereinstellung in Aussicht. Damit verlieren sie unter Umständen ihren Rechtsanspruch auf Arbeitslosengeld.

Kurzarbeitergeld muss vom Arbeitgeber bei der Agentur für Arbeit beantragt werden. Erhebt die keinen Einspruch bei diesen Regelungen?

Die Agenturen gucken nur, ob eine Zustimmung des Betriebsrates oder der betroffenen Beschäftigten vorliegt. Zu mehr haben die keine Kapazitäten und Kompetenzen - derzeit schon gar nicht. Allein in Berlin haben die Arbeitsagenturen aktuell Anträge aus rund 2000 Unternehmen auf dem Tisch, wo es sonst 15 im Monat sind. Im Hotel- und Gaststättengewerbe reden wir da von fast 30 000 betroffenen Beschäftigten. Das war letzte Woche, als die Restaurants noch nicht komplett geschlossen hatten.

Das klingt dramatisch. Was kann die Gewerkschaft an der Stelle noch tun?

Wir raten den Beschäftigen, sich nicht alles bieten zu lassen und sich beraten zu lassen. Wir haben hier allein vier Kolleginnen und Kollegen, die täglich Rechtsberatung machen. Der Bedarf wird in den nächsten Wochen sicherlich noch steigen. Wir beraten derzeit aber nur telefonisch oder per E-Mail. Einige unserer Mitarbeiter sind im Homeoffice. In dieser Situation kann von uns niemand krank werden. Gerade in Krisenzeiten werden wir als Gewerkschaft gebraucht.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -