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Dringendes Veränderungsbedürfnis

Wenn Postsozialismus auf Postwachstum trifft: Über alte Erfahrungen und neue Wohlstandsnarrative

  • Ulrike Baureithel
  • Lesedauer: 8 Min.

Erzählt euch eure Geschichte!«, erging nach der Wende die Aufforderung an Bürger*innen in Ost und West. Verbunden war damit die Hoffnung, den 40-jährigen Gap, den die »Systemkonkurrenz« zwischen den Deutschen hinterlassen hatte, zu überwinden, die kulturellen und mentalen Kristallisationskerne freizulegen und aufzulösen in einem organisierten Bewusstwerdungsstrom.

Wie man weiß, gelang es trotz allen Erzählens nicht, die Gräben zuzuschütten, im Gegenteil verhärtete sich das Material kollektiver Erinnerung zumindest im Osten und bildete eine neue Form des antiwestlichen Schutzwalls. Der von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im vergangenen November ergangene Aufruf, sich Geschichten über den Mauerfall und die Wiedervereinigung zu erzählen, wird daran wenig ändern.

Der Appell von oben hilft nämlich wenig, selbstorganisiertes Gegen-den-Strom-Schwimmen vielleicht mehr. Wenn alle Er- und Aufklärung am Ende ist, alle Mahnungen und Drohungen abprallen: Birgt das Erlebte und Erfahrene, weit über den persönlichen Zugang hinaus, nicht auch den Stoff, aus dem ein Stück Zukunft zu machen wäre?

Der von der Berliner Journalistin Kathrin Rohnstock 1998 ins Leben gerufene »Erzählsalon« jedenfalls ist mit diesem Glauben angetreten. Der kleine geschützte Raum in der Saarbrücker Straße in Berlin-Prenzlauer Berg gibt Menschen Gelegenheit, aus ihrem Alltag und Arbeitsleben zu berichten. Ohne feste Struktur und jeweils aus Ost- und Westperspektive. Daraus gingen Hunderte von Autobiografien, Familien- und Firmengeschichten hervor, aber auch der »Generaldirektorensalon«, in dessen Rahmen seit 2012 ehemalige Kombinatsleiter ihre Erfahrungen mit der DDR-Wirtschaft weitergeben und einer Generation zugänglich machen, die den »realen Sozialismus« überhaupt nicht mehr aus eigener Anschauung kennt.

Inzwischen macht das Projekt einen weiteren Anlauf, indem es versucht, die ältere und die jüngere Generation ins produktive Gespräch zu bringen. »Ein Experiment« nennt es Rohnstock einführend bei der ersten Veranstaltung zum Thema »Postwachstum und Postsozialismus«.

Anstoß war ein im vergangenen Jahr von Jana Gebauer, Gerrit von Jorck und Lilian Pungas in größerem Zusammenhang initiierter Workshop, an dem unter anderem auch Kathrin Rohnstock und ihr Sohn Nepomuk teilgenommen hatten. Die Idee: Die in den Erfahrungen der Menschen sedimentierten Lektionen der postsozialistischen Transformation ans Tageslicht zu heben und sie auf ihre Zukunftsfähigkeit abzuklopfen. »Die konkreten Erfahrungsgeschichten der Umbruchszeit«, sind die drei Wissenschaftler*innen, die alle in der ökologischen Wirtschaftsforschung beheimatet sind, überzeugt, »enthalten für Degrowth-Interessierte wichtige Botschaften wie etwa: Knappheit ist nutzbar, Systeme sind wandelbar, Krisen sind lebbar und Neuland ist denkbar.« So steht es im Einladungspapier 2019.

Beim Aufeinandertreffen der beiden Milieus im gut besuchten Erzählsalon ein Jahr später offenbaren sich dann zumindest äußerlich erste Unterschiede: Die leger aufs Sofa hingegossenen Forscher*innen, die launig aus dem kaum halbgefüllten biografischen Nähkästchen plaudern, stoßen auf drei korrekt wirkende ältere Herren, allesamt einmal DDR-Wirtschaftsfürsten, die sich bei jedem Redebeitrag höflich erheben und immer noch so wirken, als müssten sie eine Belegschaft vom »Plan« überzeugen. Zwischen ihnen liegen 40, 50 Jahre und ein Erfahrungsunterschied, der an einem einzigen Abend kaum auszumessen ist.

Dabei stammen auch die Jüngeren aus verschiedenen Welten. Während die 1973 geborene Unternehmensforscherin Jana Gebauer einen ostdeutschen Transformationshintergrund hat und noch für das Fach »Sozialistische Finanzwirtschaft« zugelassen war, erlebte Gerrit von Jorck, Enkel preußischen Adels und Kind aus der Arbeiterklasse in Kleve, schon am Küchentisch die Zerreißprobe zwischen sozialen Herkünften. Während die Großmutter noch vom alten Schloss träumte und die Eltern hart arbeiteten, verliebte sich der junge Mann in eine, »die aus dem Osten kam«. Die aus Estland stammende und der russischen Minderheit angehörende Lilian Pungas wiederum, die nur deshalb eine deutsche Schule besuchte, weil es dort ein Schwimmbad und eine Sauna gab, hat die Transformation in ihrer Heimat als neoliberales Projekt erlebt. In Estland werde der Westen nachgeahmt, umgekehrt sei aber nur sehr wenig westliche Neugierde für das spürbar, was in Osteuropa vor sich gegangen sei, beklagt sie.

Doch gerade diese Neugierde ist es, die sie alle zusammengeführt hat. »Was wollen wir verlassen, wo wollen hier hin und wo ist der Weg, der die Massen ergreift?«, umreißt es Eckhard Netzmann, Jahrgang 1938 und ehemals als Generaldirektor des VEB Schwermaschinenbaukombinat »Ernst Thälmann« in Magdeburg und später im Kombinat Kraftwerksanlagebau Berlin tätig, in umwerfend realsozialistischem Jargon. Die einen nennen es Degrowth, die anderen Postwachstumsgesellschaft und Unerschrockene sogar Postkapitalismus. Degrowth meint eine Ökonomie, die nicht vor allem auf immer schnelleres Wachstum und Profit setzt, sondern auf eine kontrolliert schrumpfende Wirtschaft zugunsten einer sozial-ökologischen Transformation, die bedürfnisorientiert ist, regionale und lokale Kreisläufe stärkt, die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge rückgängig macht und außerdem auf eine mentale Veränderung der Individuen abzielt, ohne die der Struktur zu vernachlässigen.

Neu, erklärte einer deren bekannteren Vertreter, der Soziologe Ulrich Brand, schon 2014, sei das alles nicht, allerdings würden die verschiedenen Debatten nun mehr zueinander ins Verhältnis gesetzt. Die Unzufriedenheit mit den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen, schreiben Corinna Vosse und Dieter Haselbach in einem Diskussionspapier, sei evident und »Ansatzpunkt, um kritisches Bewusstsein zu aktivieren«.

Dieses »dringende Veränderungsbedürfnis«, teilt auch Jana Gebauer mit vielen ihrer Mitstreiter*innen die Überzeugung, sei in großen Teilen der Gesellschaft vorhanden, auch wenn die »große Veränderungsmüdigkeit« (Steffen Mau) nach der postsozialistischen Transformation erst noch überwunden werden müsse. Dazu braucht es eine kritische Masse, die den Wandel in Bewegung setzt. »Ich wende mich dagegen, Alternativen nicht denken zu können.«

Eine, wenn nach 40 Jahren auch gescheiterte Alternative war die DDR. »Wenn ich Sie höre«, kontert Netzmann Gebauers langes Statement, »fühle ich mich in die fünfziger und sechziger Jahre versetzt.« Auch damals sei es um den »neuen Menschen« gegangen. Und launig erzählt er davon, wie er als Werksdirektor am Sonnabend mit »seinem« Betriebskollektiv in der Arbeitersiedlung seine 1.063 Stunden geleistet habe, um Garagen zu bauen. »Der Generaldirektor, dem ich das nach der Wende erzählt habe, erwiderte: ›Jetzt weiß ich, warum die DDR untergegangen ist.‹«

Gemessen an der Arbeitsproduktivität im Westen war die DDR nie konkurrenzfähig, davon können auch Uwe Trostel und Alexander Schmejkal ein Lied singen. »Wir sind der Bundesrepublik immer hinterhergehechelt«, so der ehemalige Leiter der Kreisplankommission und spätere stellvertretende Bezirksbürgermeister Berlin-Prenzlauer Berg, Schmejkal. Der Elektroingenieur erinnert an die frühe Computerentwicklung in der DDR, »dolle Leistung«, die aber daran gescheitert sei, dass dem Land am Ende der Super-Chip fehlte.

So gesehen war die DDR, wenn auch unfreiwillig, eine Postwachstumsgesellschaft, schlicht, weil es ihr an Ressourcen aller Art fehlte. Ob sie nachhaltig zu nennen wäre, sei dahingestellt, denn zwar beförderte der fortwährende Mangel die Verwertungsfantasie, doch der Raubbau an der Natur war nach dem Ende der DDR kaum übersehbar. Und die nicht befriedigten Konsumbedürfnisse waren zuguterletzt der Grund, weshalb 1989/90 alle Alternativen von der historischen Bühne abgeräumt wurden.

Insofern sind die Krisen, die sowohl für die BRD als auch die DDR schon Anfang der 1970er Jahre ihren Anfang nahmen, paradox: In einem Fall handelte es sich um eine Überproduktionskrise, im anderen um eine der Unterversorgung. In beiden Fällen verlor der Staat seine Steuerungsfunktion.

Er habe, sagt Uwe Trostel, zu DDR-Zeiten Leiter in der staatlichen Plankommission und später zwölf Jahre Regierungsberater in Russland, das Privileg gehabt, zwei Gesellschaften kennenzulernen. Und er ist immer noch überzeugt davon, dass nicht nur der Sozialismus, sondern auch der postkapitalistische Transformationsprozess »wissenschaftlicher Vorbereitung« bedarf.

»Strategische Planung« wurde von den drei Direktoren deshalb auch immer wieder als zentraler Begriff aufgerufen, sowie die Rolle des Staats, der diese koordiniere. Die Kluft zwischen der von Lilian Pungas untersuchten Subsistenzwirtschaft der in Estland lebenden Russen (»selbstbestimmte Ökonomie«) und den von Trostel beschriebenen Verhältnissen in Russland hätte nicht größer sein können. »Der ganze Sozialismus«, kommt es irgendwann aus dem Publikum, »war ein technologischer Organismus.«

Aber genau das ist es wohl nicht, was sich die Jüngeren unter einer Postwachstumsgesellschaft vorstellen, die ja gerade auf einen grundsätzlichen ökologischen, ökonomischen und sozialen Systemwechsel abhebt. »Es gibt nicht den einen Akteur«, insistiert Jana Gebauer und verweist nachdrücklich auf die »staats- und hierarchieskeptische« Tradition der Degrowth-Bewegung. Gleichzeitig räumt sie ein, dass der selbstorganisierte Zugang – etwa in den Nischen postkapitalistischer Organisationen und kleiner Unternehmen – an seine Grenzen kommt.

Wer kann eine Gegenmacht gegen kapitalistische Monopole aufbauen und bündeln, wer den Prozess koordinieren? Der Wachstumskritiker Bernd Sommer, der dies im Rahmen eines Forschungsprojekts untersucht hat, hebt zwar die »Leuchtturmfunktion« solcher Unternehmungen hervor, ist mit anderen aber auch darin einig, dass dies der Einbeziehung des Staates, der eben nicht nur als »kapitalistischer Staat« agiere, bedürfe. Das alles erinnert an die Diskussionen in den siebziger und achtziger Jahren im Westen, an Autonomiegebote und »Staatsknete«. Schade, dass die mittlere Generation mit diesem Erfahrungsschatz auf dem Podium nicht vertreten war.

»Wir behaupten nicht, etwas ganz Neues zu wollen«, erklärt Gebauer. Ihnen gehe es darum, zu lernen, warum die vielen guten Ideen nicht funktioniert hätten. Das »gute Leben«, dieses aus der philosophischen Ethik abgeleitete Prinzip, sind die Aktivist*innen überzeugt, sei für die Postwachstumsgesellschaft ohnehin erst fruchtbar zu machen, wenn die Grundbedürfnisse erfüllt sind. Insofern ist Degrowth kein Modell für arme, sich entwickelnde Gesellschaften. Gerade die Mangelwirtschaft in der DDR, gibt Gerrit von Jorck zu bedenken, habe zu Überkonsum geführt. Wenn etwas da war, habe man sich versorgt, egal, ob man es brauchte. Auch die Unternehmen. »Wir brauchen dagegen ein neues Wohlstandsnarrativ, wir müssen uns einigen über das Genug.« Diese Frage habe man sich in der DDR nicht gestellt und Raum für Pionierlösungen, wie etwa die Projektebewegung im Westen, gab es dort ebenfalls nicht. Da schwang einige Skepsis mit, die nicht nur mit den Sprachregelungen zu tun hatte. Dennoch will man den Austausch fortsetzen. Bleibt die Frage, ob all die Erzählungen nicht irgendwann analytisch grundiert werden müssten.

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