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Systemrelevant, aber mies bezahlt
Studie zeigt Diskrepanz von Prestige, Entlohnung und Wichtigkeit von Berufen auf
Im Vergleich zur Finanzkrise 2008/9 hat sich zumindest bei den Sonntagsreden ein Paradigmenwechsel vollzogen. Dieser Tage ist im Zeichen von Corona viel von »systemrelevanten Berufen« die Rede statt von »systemrelevanten Banken«. Und »systemrelevant« ist nicht der Manager im Chefsessel oder der Hedgefondsmanager im Bankenturm. Systemrelevant ist jetzt zum Beispiel die Kassiererin im Supermarkt oder die Pflegekraft im Krankenhaus. Da dankt auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schon mal all jenen, die »derzeit den Laden am Laufen halten«.
Doch der Großteil all jener, denen zurzeit besonders viel Dank gebührt, erhält ein unterdurchschnittliches Gehalt und außerhalb der Coronakrise auch eher wenig Prestige für ihre Arbeit. Und viele dieser Angestellten sind Frauen. Dies ist das Fazit einer kurzen Studie, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) am Mittwoch veröffentlichte. »Die Erkenntnis, dass unsere Gesellschaft auf das Ausüben bestimmter Berufe mehr angewiesen ist als auf andere, scheint vor allem in Krisenzeiten besonders präsent«, schreiben die DIW-Forscherinnen Josefine Koebe, Claire Samtleben, Annekatrin Schrenker und Aline Zucco. Betrachte man die Bewertung des gesellschaftlichen Ansehens der verschiedenen systemrelevanten Berufsgruppen außerhalb von Krisenzeiten, zeige sich eine überwiegend unterdurchschnittliche Wertschätzung ihrer Tätigkeiten.
Um diese Wertschätzung zu messen, zogen die Studienautorinnen die sogenannte Magnitude-Prestige-Skala heran. Dies ist ein in den 1980er Jahren in Westdeutschland entwickeltes Ranking, das auf der Grundlage von Befragungen das Ansehen einer Tätigkeit in der Bevölkerung misst. Demnach weisen die systemrelevanten Berufsgruppen zusammenbetrachtet ein um rund fünf Punkte geringeres Ansehen auf als der Gesamtdurchschnitt aller Berufe, der bei 63 von 200 maximal erreichbaren Punkten liegt. Eine besonders krasse Geringschätzung erfahren etwa Reinigungskräfte, Paketzusteller oder Busfahrer.
Unterdessen gibt es auch systemrelevante Berufe, von denen die Gesellschaft auch jenseits von Corona besonders viel hält. Ärzte etwa erreichen auf der Beliebtheitsskala mit 194 Punkten fast die maximal mögliche Punktzahl. Doch: »Ärztinnen und Ärzte könnten ihrer gesellschaftlich bereits hoch anerkannten Tätigkeit kaum oder nur sehr limitiert nachkommen, wenn der gereinigte Behandlungsraum und die Begleitung und Nachsorge durch Pflegepersonal fehlen würden«, heißt es in der DIW-Studie. Und diese Leistungen werden von Berufsgruppen erbracht, die eben nur eine geringe Anerkennung erfahren.
Diese spiegelt sich auch im Gehalt wider. Während der durchschnittliche Bruttostundenlohn aller Berufe bei 19 Euro liegt, weisen systemrelevante Berufe laut der DIW-Studie zusammengenommen einen mittleren Stundenlohn von unter 18 Euro auf - sie liegen damit rund sieben Prozent unterhalb des Durchschnitts. Gut bezahlte Ärzte oder IT-Mitarbeiter machen nur jeweils ein Prozent der in systemrelevanten Bereichen angestellten Personen aus. »Insgesamt lässt sich feststellen, dass über 90 Prozent der Beschäftigten in Berufen, die aktuell der kritischen Infrastruktur zugeordnet werden, nur einen unterdurchschnittlichen Lohn bekommen«, so die DIW-Studie. So liegt etwa der Verdienst von Pflegekräften, Arzthilfen oder im Lebensmittelhandel weit unter dem Durchschnittslohn.
Hinzu kommt, dass viele dieser schlecht entlohnten und gering geschätzten Tätigkeiten überwiegend von Frauen verübt werden. Um es in konkreten Zahlen auszudrücken: Der Frauenanteil in den systemrelevanten Berufsgruppen liegt bei knapp 75 Prozent. »Ebenso schnell wie Konsens darüber bestand, welche Berufsgruppen angesichts der Krise zu den unverzichtbaren Kräften des gesellschaftlichen (Über-)Lebens gehören, so schnell sollten sich diese konkreten Maßnahmen umsetzen lassen, um zu einer höheren Entlohnung, besseren Arbeitsbedingungen sowie einer allgemeinen Aufwertung bestimmter Berufe beizutragen«, fordern deshalb die Studienautorinnen.
Damit sind sie nicht allein. So haben Pflegekräfte aus dem gesamten Bundesgebiet bereits in der vergangenen Woche auf change.org eine Petition an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gestartet. Das Ziel von 300 000 Unterstützern haben sie bereits fast erreicht. Als Pflegekräfte hätten sie »schon ein bisschen mehr Substanz in den letzten Jahren erwarten dürfen als warme Worte, Merci-Schokolade und Partys für die Funktionäre«, schreiben sie in ihrer Petition unter anderem und fordern stattdessen ein Einstiegsgehalt von 4000 Euro.
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