V tridtsat’ tretyem godu vsyu poyeli

Ein Akkordeon rettet die Welt in einem Tiblissier Innenhof

  • Lesedauer: 9 Min.

Aleksi Mensch ging in die Geschichte ein. Davon hat er nichts erfahren. Würde er auch nicht, denn über einem vom Volkskommissariat für innere Angelegenheiten der UdSSR am 25. Mai 1938 in Moskau ausgegebenen Befehl zur »Verhinderung von Verfehlungen in Kinderheimen im Umgang mit Kindern repressalienbetroffener Eltern« stand unmissverständlich geschrieben: »Streng geheim«. In dem Befehl stand so einiges. Sehr schlimme Dinge. So schlimme Dinge, dass vor ihrem Hintergrund Aleksis Abenteuer nicht erwähnenswert wäre: Wie es hieß, »wurden im Kinderheim Borkow im Kreis Kalinin zwei achtjährige Mädchen von Heimbewohnern aus der älteren Gruppe vergewaltigt. Die Erzieher des Heimes ließen die Kinder einander zur Strafe verprügeln«. Aleksi war zwar weder ein Kind repressalienbetroffener Eltern, noch hatte er die Vergewaltigungen angezettelt - er hatte etwas anderes verbrochen: Er war ausgerissen, hatte am Flussufer Teer geschnüffelt -, doch Aleksi wurde trotzdem zum Schläger und Geschlagenen: Ein Erzieher wettete auf ihn. Und verlor. Aleksi, normalerweise ein ordentlicher Raufbold und, wenn es darauf ankam, unberechenbar

wie eine Bestie, war erstarrt. Der Erzieher war jedoch überzeugt, er hätte das absichtlich getan, und verpasste ihm die Abreibung, die der Gegner hatte vermissen lassen. Nach diesem Geschehnis landete der Heimbewohner Mensch, blutüberströmt und zerschlagen, zunächst im Krankenzimmer des Kinderheims, wo man feststellte, er sei am Leben, und dann in der Bude des versoffenen, hinkenden und missgelaunten Straßenfegers, der feststellte, er habe ein zertrümmertes Bein, sei aber am Leben. Er werde zwar sein Leben lang hinken, genau wie er selbst, aber er sehe doch, dass er lebendig sei und auch er leben werde.

Anna Kordsaia-Samadaschwili

Es war einmal eine Stadt, deren Bewohner schworen, sie sei die schönste der Welt und in ihr würden Dinge passieren, von denen andere Städte nur träumen könnten. Genau in dieser Stadt, am ehemaligen Revolutionärsplatz Nummer eins, wohnt der verkrüppelte, in einem Kinderheim aufgewachsene Musiker Aleksi Adamiani, dessen Nachname schlicht »Mensch« bedeutet.

Auch wenn das Schicksal ihm ein sehr schweres Leben beschieden hatte, lächelte es ihm zu und schenkte ihm das treue Akkordeon »Raviata«, seine zwei engsten Freunde Kotiko und Data, die heimlich in ihn verliebte Tamriko und ein vermeintliches Enkelkind: Sinka Adamiani - Sinka Mensch. Verschrobene, warmherzige, eigentümliche und vom Leben gezeichnete Charaktere - es ist ihre bittersüße Geschichte, die die 1968 geborene georgische Autorin, Übersetzerin und Kulturjournalistin Anna Kordsaia-Samadaschwili in ihrem neuen Roman erzählt. Sie alle nehmen ihr zumeist sehr hartes Schicksal an, und viele von ihnen werden an ihm scheitern, aber nicht, ohne ihm zuvor ihren Anteil am Glück abzutrotzen und die hellen Momente des Lebens zu feiern. In den wundersamen, auf den ersten Blick unglaublichen Begebenheiten, die Kordsaia-Samadaschwili zu einem Märchen verwebt, sind Erdachtes und Wahres untrennbar miteinander verknüpft. In ihnen spiegeln sich die Geschichten der Stadt Tbilissi in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, das alltägliche Leben genauso wie die großen Tragödien, glückliche Fügungen und schwarze Tage, alles, was das Menschsein ausmacht.

Anna Kordsaia-Samadaschwili: Sinka Mensch

Aus dem Georgischen von Sybilla Heinze; Frankfurter Verlagsanstalt

176 S., geb., 22,00 €

Jenen Mann vergaß Aleksi nie. Was andere Dinge betraf, gab er sich Mühe und es gelang ihm tatsächlich, alles zu vergessen, nicht aber den Straßenfeger - niemals. Der wortkarge, gebrochene Mann mit gebrochenem Körper zog das Akkordeon hervor und sang schlecht:

V tridtsat’ tretyem godu
vsyu poyeli lebedu.
Ruki, nogi opuhali,
umirali na hodu …

Im Jahre dreiunddreißig
haben wir den giftigen Gänsefuß aufgegessen
Arme, Beine schwollen uns an
wir starben beim Laufen …

Der Straßenfeger brachte Aleksi wieder auf die Beine und schenkte ihm ein Akkordeon. Wenn man Verkrüppeltsein als Glück bezeichnen kann, hatte Aleksi Glück gehabt. Als Krüppel wurde er nicht in den Krieg eingezogen, hatte aber Papiere und ein Akkordeon; jenes Heimkind Aleksi Mensch aus dem Kinderheim Borkow im Kreis Kaliningrad, das in Wirklichkeit weder Aleksi mit Vornamen noch Mensch mit Nachnamen hieß - aber er würde das nie erwähnen! - also, jener Aleksi Mensch spielte und sang, er sang für die Kämpfenden, die Verwundeten, die Sterbenden und die Überlebenden, er spielte und sang in Vorzeigekinderheimen, auf Feiern, Schulfesten, und er sang immer für junge Mädchen, die selbst nach zwölfstündiger Plackerei eher schlecht als recht, aber immerhin zurechtgemacht und immerhin junge Frauen, einen zwar hinkenden, aber lächelnden und, was die Hauptsache ist, männlichen Menschen anlachten, der das Akkordeon voller Leidenschaft spielte, und siehe da - der erste Akkord und Aleksi legte los: »Meine Damen und Herren! Jungs und Mädels! Ich bin Aleksi Mensch. Dieses Akkordeon heißt Raviata. Als es jung war, hieß es Traviata, aber dann brach der erste Buchstabe ab und ging verloren. Deshalb heißt es Raviata, das beste Akkordeon der Welt …«

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Später, sehr viele Jahre später, sah Aleksi im Kino vor Beginn des eigentlichen Filmes einen völlig uninteressanten, lehr- und erkenntnisreichen Kurzfilm, in dem hie und da Zeichnungen zum Leben erwachten. Eine davon kam Aleksi bekannt vor, erinnerte ihn an etwas, oder ihm wurde etwas klar oder er sah etwas, was er zwar ständig vor der Nase, aber doch nicht bewusst erkannt hatte, so etwas in der Art. Da war die runde Erde, ein Ball, von Schienen durchzogen, und dieser Ball drehte sich, Tannenbäume und mehrstöckige Häuser waren zu sehen, wuchsen und verschwanden wieder, und auf diesen Ball trat ein Mann, ein Akkordeonspieler, lächelnd, einen Hut in den Nacken geschoben, mit hohen Schnürschuhen, wie sich das gehört, und er zog das Akkordeon auseinander, sang und brachte die Erde zum Drehen oder die Erde brachte ihn zum Drehen, aber so viel kapierte Aleksi nun auch wieder nicht. Das war nichts Besonderes, denn auf jedem Plakat war ein lustiger Akkordeonspieler und fast alle Filme fingen mit Schienen an, und wer Akkordeon spielt, ist immer unterwegs, was sonst - doch Aleksi wusste, dass er etwas Bedeutsames gesehen hatte. Dieses Bild hatte er später oft vor Augen. Er dachte nach. So viel, dass er am Ende der Meinung war, irgendwer habe genau sein Leben gemalt. Er sprach nicht darüber, er dachte einfach nur nach und erfreute sich daran, und er freute sich, dass er auf der Erde wandelte.

So kam es, dass er überlebte und alles ihm gehörte: Erde, Schienen und Akkordeon. Und ebenso Frauen. Die Frauen, die jungen und die nicht ganz so jungen, die hübschen und die einigermaßen hübschen, die ruhigen und die dummen - sie alle liebten Aleksi Mensch und Aleksi liebte sie. Aleksi liebte Frauen. Tausendmal mehr als Männer. Frauen taten nicht das, was Aleksi am meisten hasste, sie fielen ihm nicht zur Last, wurden nicht böse, stritten nicht, jedenfalls taten sie ihm wirklich nichts zuleide und auch Aleksi musste ihnen nicht zur Last fallen oder mit ihnen streiten. Sie lachten schallend, waren glücklich und dankbar. Auch Aleksi war dankbar. Aleksi gelang es, niemals irgendjemanden zu kränken. Manchmal dachte er zwar, etwas könnte sie gekränkt haben und sie zeigten es bloß nicht, aber das war nur ein kurzer Gedanke, der nicht mal so unangenehm war, dass er vergessen werden sollte. Und die Erde drehte sich und Aleksi sang und die Mädchen tanzten, mal mit Jungs, mal mit Freundinnen oder auch mal allein, und ihre Kleider wirbelten und ihre Augen glänzten. Herrlich! Ein toller Mann, dieser Akkordeonspieler!

Am Ufer des Schwarzen Meeres

S bolshoy gordost’yu i nadeshdoy chitayut
progressivnye lyudi mira slova
tovarishcha N.S.Hrushchova:
Kommunizm predlogayet vsestoronneye
fisicheskoye i duhovnoye razvitye cheloveka.

Fortschrittliche Menschen lesen
mit großem Stolz und großen Hoffnungen
die Worte des Genossen N. S. Chruschtschow:
Kommunismus bedeutet eine umfassende
körperliche und geistige Entwicklung
des Menschen.

Mitten in der Sonne, auf einem Stuhl, saß ein Mann, ein Junge hockte bei ihm, drei, vier Jahre alt, und hörte ihm aufmerksam zu.
»Zeig mir deine Hand«, sagte der Mann. »Nun sag mir mal, falls du das weißt: Wie viele Finger hast du an dieser Hand?«
»Fünf«, antwortete der Junge.
»Richtig«, bestätigte der Mann. »Und an der anderen?«
Das Kind streckte ihm die andere Hand hin: »Da auch fünf.«
»Oh, so ein kluger Junge«, sagte der Mann. »Und nun, weißt du denn auch, wie viele Finger du an beiden Händen hast? Also zusammen. Nun?«
»Zehn!«, sagte der Junge stolz.
»Aha!« Der Mann konnte seine Begeisterung nicht verbergen. »Du bist ein sehr kluger Junge! Und weißt du denn auch, wenn wir deine und meine Hände zusammenzählen, wie viele Finger da insgesamt rauskommen?«
»Zwaaan-zig!«
»Das stimmt nicht!«, rief der Mann und stand auf. »Zähl mal nach!« Er streckte dem Jungen die Hände entgegen. An der Rechten hatte er nur noch zwei Finger - Daumen und Zeigefinger.
Das Kind staunte. Der Mann lachte. »Genau. Nicht jeder hat fünf Finger. Und ich verrate dir noch was: Gleich kommt ein Mann, der hat sogar nur ein Bein.«
»Kann er laufen?«, flüsterte der Junge.
»Na klar!«, versicherte ihm der Mann. »Und wie!«
Das Kind rief »Oh!« und versuchte wegzulaufen, rannte aber direkt in Aleksi, der Zeuge des Gesprächs geworden war. Aleksi versuchte, den Jungen aufzuhalten, der aber schaute verängstigt auf dessen Beine, war, obwohl er deren zwei sah, trotzdem nicht erfreut, sondern rief noch mal »Oh!« und nahm Reißaus.
»Hat der sich erschreckt«, sagte der Zweifingrige bedauernd und streckte Aleksi die Hand entgegen: »Kotiko. Hallo.«
Dann kam der andere, Data, und Data hatte wirklich nur ein Bein, lief wirklich fix und benutzte seine Krücke ziemlich geschickt. Data und Kotiko hatten im selben Haus wie Aleksi ein Zimmer gemietet. Data und Kotiko waren Georgier, aus Georgien, nicht aus Abchasien oder Südossetien.
Warst du schon mal in Georgien? Nein, nie. Ich weiß, sehr schön ist es dort. Ich? Keine Ahnung woher … aus der Sowjetunion. Ich wurde eingeladen. Dann komm doch mit nach Georgien. Laden wir dich eben ein. Es ist doch nicht weit von hier. Im Prinzip ist Sotschi auch Georgien. Und dann folgte eine lange Geschichte darüber, wie groß Georgien einst gewesen war und so weiter und so fort …

Sie saßen im Hof, am Feigenbaum, tranken Kwass und plänkelten herum. Es war ein herrlicher Tag, heiß, klarer Himmel, kalter Kwass, die pummelige, lächelnde Haushälterin, die unverhohlen kokettierte, die Aussicht auf Arbeit und zwei Wochen in der wunderschönen Kurstadt Sotschi.

Es heißt, in der Stadt Sotschi seien die Nächte dunkel.

Aleksi gefielen diese Typen, Kotiko und Data. Nur konnte er die Männer, die wie aus heiterem Himmel aufgetaucht waren, auf Anhieb recht schwer auseinanderhalten - nicht wegen ihres Aussehens, denn sie glichen einander überhaupt nicht, sondern wegen ihrer Geschichten. Sie erzählten Geschichten, die der eine begann und der andere beendete, sie nahmen sich gegenseitig das Wort aus dem Mund, neckten einander und kamen einem vor wie ein einziger Mensch, nur in Form von zweien.

Anna Kordsaia-Samadaschwili:
Sinka Mensch
Aus dem Georgischen von Sybilla Heinze
Frankfurter Verlagsanstalt, 176 S., geb., 22,00 €

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