Die Isolation trifft psychisch Kranke doppelt hart
Im Zuge der Coronakrise wird es zu mehr und schwereren Seelenleiden in der Bevölkerung kommen
Nicht nur gesunde Menschen empfinden die aktuelle Situation als äußerst stressig - mit Bewegungseinschränkungen, stündlich neuen Nachrichten und beruflicher Unsicherheit. Zudem müssen viele ganztägig mit den Kindern zu Hause bleiben, weil Kitas und Schulen geschlossen sind. Und sich vielleicht auch noch um ältere Verwandte kümmern, die gerade lieber nicht besucht werden sollten. Im ungünstigen Fall können sich aus solchen Belastungen Ängste entwickeln, die ärztlich behandelt werden müssen. Kritisch wird es, wenn Betroffene mehr als die Hälfte des Tages über ihre Ängste nachdenken, wenn sie sich in Lebensqualität und Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt fühlen, aus diesem Grund depressiv werden oder zu Drogen greifen. Dann ist fachärztliche Abklärung und Hilfe nötig. Diese Unterstützung sollte auch unter den aktuellen Umständen gesucht werden, und es ist absehbar, dass es zu einem Anstieg von psychischen Krankheitsfällen kommen kann.
Bei denjenigen, die bereits psychisch erkrankt sind, kann sich die Symptomatik verschlechtern, warnt Psychiaterin Iris Hauth vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Viele Menschen befinden sich bereits in Krankenhäusern oder Betreuungseinrichtungen. Manche leben in ihrer Familie und werden ambulant betreut. Von der gegenwärtigen Aufregung bekommen sie einen Großteil mit. Sie sind stressempfindlicher, erklärt Hauth, zeigen dann mehr Symptome wie Angst, Panik oder Depressionen.
Nach DGPPN-Zahlen werden pro Quartal in Deutschland 2,5 Millionen gesetzlich Versicherte psychisch behandelt. Laut Statistischem Bundesamt gibt es pro Jahr 800 000 stationäre Behandlungen, 150 000 teilstationär tagsüber.
Schon in ruhigeren Zeiten wird im Verlauf eines Jahres bei zehn Millionen Menschen eine Angststörung festgestellt, bei mehr als fünf Millionen eine Depression. In Therapien wird daran gearbeitet, dass diese Patienten lernen, ihre Tag zu strukturieren und unter Menschen zu gehen. Jetzt entfallen aber viele Versorgungsangebote wie offene Treffs, Gruppentermine oder gemeinsame Ausflüge. Daher haben Kliniken und Praxen alternative Behandlungsmethoden wie Telefonsprechstunden oder Online-Interventionen in ihr Angebot aufgenommen. Ob das immer rechtssicher ist und auch angemessen abgerechnet werden kann, ist unklar. Funktionieren dürfte es zudem nur für leichte Fälle. »Die Gefahr ist groß, dass schwer kranke Patienten den Verzicht auf den persönlichen Kontakt nicht lange aushalten«, so DGPPN-Präsident Andreas Heinz. »Wir befürchten, dass beispielsweise die Zahl der Suizide steigen könnte, wenn die Kontaktsperre länger als zwei, drei Wochen anhalten sollte.«
Betroffene, zu denen auch Menschen gehören können, die einmal eine psychische Erkrankung durchlebt haben, leiden jetzt verstärkt unter sozialer Isolation. Sie sind auf besondere Unterstützung angewiesen und darauf, dass ihre Behandlungen nicht unterbrochen werden. Manchmal ist die wöchentliche Ergotherapie, in deren Verlauf vielleicht getöpfert oder gemalt wird, der einzige feste Termin im Leben von chronisch psychisch Kranken. Solche Therapien finden oft in den Psychiatrischen Institutsambulanzen statt, die Krankenhäusern zugeordnet sind. Allerdings wird gerade aus offenen Stationen schon entlassen, wenn eine Behandlung zuhause zumutbar erscheint, Neuaufnahmen werden vermieden. Die Einrichtung von Corona-Stationen in den Krankenhäusern geht auch zu Lasten von Patienten in den Psychiatrien, ohne dass es mehr ambulante Kapazitäten zu ihrer Versorgung gäbe.
Seelsorge- und Krisentelefone werden jetzt deutlich häufiger angerufen. So hat sich beim »Krisendienst Psychiatrie« in Oberbayern die Zahl der Anrufer im Vergleich zum Vorjahr von 70 auf 140 pro Tag verdoppelt. Offensichtlich gibt es einen Zusammenhang mit den bayerischen Ausgangsbeschränkungen. Wenn ein klärendes, beruhigendes Telefongespräch nicht genügt, können die regionalen sozialpsychiatrischen Dienste ein persönliches Gespräch mit extra geschulten Fachkräften anbieten. In Oberbayern sind 600 solcher Helfer im Einsatz. Aktuell finden die persönlichen Treffen mit den Zweierteams meist im Freien statt, um niemanden mit einer unnötigen Ansteckung zu gefährden.
Eine solche personelle Ausstattung ist aber bundesweit nicht mehr bei allen solchen Diensten gegeben. Auch in diesem Bereich könnte nun eine frühere Sparpolitik Patienten hart treffen.
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