Die Freiheit bewahren

Kampfstern Corona (Teil 6): Wann schadet der Ausnahmezustand mehr als er nützt?

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 4 Min.

Neulich Nacht hatte ich einen subtil bedrohlichen Albtraum. Mir ist ein Aufenthalt in einem Berghotel geschenkt worden; ich fahre mit der Seilbahn hoch. Was in meinen Träumen sonst ein Signum der Glückseligkeit ist - sonnenbeschienene Berggipfel -, liegt nun in finsterstem Nebel. So auch der schwarze Hochhausturm des Hotels, umgeben von einer Festung aus grauen Plattenbauten. In dieser sitze ich im Restaurant, mit Blick auf den Hof, nicht auf die Landschaft, inmitten einer Gruppe deutscher Touristen, die sich genüsslich selbst persiflieren: »We just like it like that, tons of shit food and shit drinks, wearing shit clothes in a shit hotel.« Mich erreicht ein Anruf meiner Freundin, dass ein Unbekannter versuche, sie umzubringen. Dann weckt mich unser kleiner Sohn.

»Zauberberg«-Schauer zu Zeiten von Corona-Quarantäne? Die prägende Paradoxie von Thomas Manns 1924 erschienenem Roman »Der Zauberberg« liegt darin, dass der 23-jährige Hans Castorp kerngesund als Besucher im Sanatorium Berghof ankommt und erst vor Ort von einer fiebrigen Lungenkrankheit befallen wird. Krankheit und Tod ziehen ihn magisch an, und doch ist eine der Schlüsselszenen des Romans der berühmte »Schneetraum« Castorps, in dem er seine Todesverfallenheit überwindet.

Im Gegensatz zu Manns Romanheld sind die meisten von uns in Zeiten der Corona-Pandemie aber nicht ins Sanatorium oder Krankenhaus verbannt, sondern in die eigenen vier Wände, wo wir uns mit einem zweifelhaften Zwangsurlaub oder »Corona-Ferien« konfrontiert sehen. Die uns prägende Paradoxie liegt gerade darin, dass die scheinbar gesunden Mitmenschen draußen vor der Tür für uns zur Gefahr werden können - oder wir für sie. Solidarisch sollen wir uns gerade darin zeigen, uns von anderen fernzuhalten - und ihnen nicht die beschissenen Nudeln unter den Birkenstocks wegzuhamstern.

Das klappte nur leider nicht immer so ganz. Ihre Corona-Hotels erschienen vielen Menschen kaum reizvoller als mir in meinem Traum, und die Panik ging mit vielen durch in diesem überaus wolkenverhangenen »Urlaub«. Oder eben gerade nicht. Schönste Frühlingssonne lockte die Menschen noch bis vor Kurzem scharenweise ins dicht gedrängte, risikoreiche Freie. Doch die meisten haben die Paradoxie hierbei dann doch einigermaßen begriffen: Nur wenn wir von unserer gerade noch bestehenden Bewegungsfreiheit verantwortungsvoll und sparsam Gebrauch machen, können wir sicherstellen, dass sie uns auch weiterhin erhalten bleibt. Auch unsere politischen Entscheider haben in dieser Ausnahmesituation eine fragile Balance zu halten: Wie weit können - sollten, müssen - sie die demokratischen Freiheiten, etwa das Grundrecht der Bewegungsfreiheit, einschränken? Um dadurch das Grundrecht auf Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zu schützen - und damit letztlich vielleicht auch die Grundlage unserer Rechtsordnung insgesamt: unser Überleben nämlich, zumindest das möglichst vieler.

Die Bundesregierung hat sich nun weiterhin an diesem Balanceakt versucht: immerhin keine flächendeckende »Ausgangssperre«, dafür aber »Kontaktverbot«, sprich keine öffentlichen Ansammlungen von mehr als zwei Personen (ausgenommen Kernfamilie und Mitbewohner*innen), also letztlich ein Versammlungsverbot.

Das klingt (und ist) nun auch nicht viel weniger bedrohlich; und glücklicherweise werden inzwischen auch die Stimmen lauter, die vor den möglichen Folgen dieser Maßnahmen warnen und darauf drängen, sie so kurz wie möglich dauern zu lassen und sie stetig weiter kritisch zu beobachten und gegen andere nicht minder bedrohliche Gefahren abzuwägen. Denn auch die bereits jetzt zuschlagende Wirtschaftskrise wird Menschenleben kosten, womöglich mehr als das Virus.

Die entscheidende Frage ist hier also, ob oder ab wann der Ausnahmezustand mehr schadet als er nützt. Die Paradoxie des Ausnahmezustands, wie ihn der Staatsrechtler Carl Schmitt Anfang des 20. Jahrhunderts konzipierte, besteht ja eben darin, dass eine vorübergehende Aussetzung elementarer Rechte dazu dienen soll, die Rechtsordnung als ganze aufrechtzuerhalten.

Das Entscheidende ist also dieser Zweck des Erhalts oder der Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung. Wird der Ausnahmezustand dagegen permanent oder zum Selbstzweck, handle es sich um eine »souveräne«, das bedeutet in diesem Fall: nicht verfassungsgemäße, Diktatur - der Schmitt sich allerdings nach 1933 in diversen NSDAP-Parteiämtern willig andienen sollte.

Nun lässt sich auch die liberale Demokratie selbst mit einer Paradoxie, oder zumindest einem Dilemma, beschreiben, nämlich mit dem berühmten Diktum, das der Staatsrechtler und Schmitt-Schüler Ernst-Wolfgang Böckenförde 1964 formulierte: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« Garantieren, oder eher immer wieder aufs Neue herstellen, können diese nur die einzelnen Bürger aus ihrer eigenen »moralischen Substanz« heraus. Indem sie mit ihrer Freiheit verantwortungsvoll umgehen, könnte man hinzufügen.

Souverän wäre demnach nicht, wie Schmitt formulierte, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, sondern wer kraft seiner Freiheit darauf hinwirkt, ihn zu verhindern. Diese Freiheit und Souveränität gilt es also, so weit wie möglich zu bewahren und so bald wie möglich wiederherzustellen. Damit diese Krise nicht zu einem Albtraum wird, aus dem wir nicht mehr aufwachen können.

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