Er durfte sich für anonym halten

Vor 75 Jahren starb Heinrich Mann im US-amerikanischen Exil

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.
Rauchen in der Fremde: Heinrich Mann 1949 vor dem Haus in Santa Monica, in dem er eine Wohnung bewohnte
Rauchen in der Fremde: Heinrich Mann 1949 vor dem Haus in Santa Monica, in dem er eine Wohnung bewohnte

Am 13. Oktober 1940, als die griechische »Nea Hellas«, »ein Schiff voll gestrandeter, durch Europa gejagter Berühmtheiten«, wie Klaus Mann notierte, New York erreichte und am Pier festmachte, ahnte Heinrich Mann, dass nun nichts mehr so sein würde wie vorher. Es war kurz nach neun am Morgen, er sah das Empfangskomitee, entdeckte auch seinen Bruder Thomas, winkend wie all die anderen. Nachdem die Einreiseformalitäten erledigt waren, ging er mit kurzen steifen Schritten und in aufrechter Haltung auf die Wartenden zu, elegant wie stets. Die Ankömmlinge wurden jubelnd begrüßt. Überall strahlende Gesichter. Dann eine besonders lange und ernste Umarmung mit dem Bruder.

Das Bangen hatte an diesem New Yorker Morgen für die Flüchtlinge ein Ende. Sie waren Hitler endgültig entkommen. Aber Heinrich Manns Freude hielt sich in Grenzen. Er dachte an das Verlorene, an Frankreich, das ihm seit 1933 Heimat gewesen war, an die strapaziöse Flucht über die Pyrenäen, die ihn an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte, und er dachte, dass nun erst, an diesem Tag, das Exil begann. Das Letzte, was er von Europa gesehen hatte, war Lissabon, die Stadt, die sich immer weiter entfernte, »unbegreiflich schön«. Später würde er schreiben: »Eine verlorene Geliebte ist nicht schöner.« Ja, er war gerettet. Aber der Fremde, dem unbekannten Land, sah er ohne Interesse und Neugier entgegen.

Die »New York Times« meldete am nächsten Tag die Ankunft der Flüchtlinge. Unter ihnen, hieß es, sei auch Golo Mann gewesen, der Sohn Thomas Manns, begleitet von seinem Onkel Heinrich. Wer dieser Onkel war, ließ sich der Nachricht nicht entnehmen. »Im kalifornischen Beverly Hills und in Santa Monica«, schrieb Ludwig Marcuse 1960 über den Gefährten Heinrich Mann, »sah er nur noch zurück.« Er war am falschen Platz. Amerika kannte ihn nicht, und er kannte Amerika nicht. In Frankreich hatte er gelebt. Auch Frankreich ist im strengen Sinn Exil gewesen. Doch dort hatte er Freunde »und die meiste Zeit seines achtjährigen Aufenthaltes beschäftigte ihn der franz. König Henri IV.« Die beiden Bände »waren ein ungewöhnlich glückliches Werk, das beste Geschenk des Schicksals …« Danach der Satz: »Hiermit kann der Überblick über Werk u. Dasein dieses Autors für beendet gelten.«

Ein italienischer Verleger hatte Heinrich Mann 1946 um eine Skizze seines Lebens gebeten. Die Bilanz nüchtern. Und dennoch: »Auch in Amerika schreibt er und ist am Leben, beides nicht mehr öffentlich, wenn er zurückdenkt u. vergleicht. Das sind zwei entgegengesetzte Existenzen …, er durfte sich für anonym halten.« Der Bericht, bislang unbekannt, steht jetzt im neunten Band der großartigen Sammlung der Essays und Publizistik, einer editorischen Pioniertat, die seit 2009 im Bielefelder Aisthesis Verlag erscheint. Er bringt die verstreuten, zum Teil unveröffentlichten Arbeiten der letzten zehn Jahre, aufgespürt in den Archiven der USA, Moskaus und Prags, in Lübeck und Marbach, rund fünfhundert Seiten Text, der auf über tausend Seiten im zweiten Halbband ausgiebig, angereichert mit viel dokumentarischem Material, kommentiert wird.

Noch einmal sieht man Heinrich Mann engagiert und hellwach bei der Arbeit. Er schrieb an seinem Memoirenwerk »Ein Zeitalter wird besichtigt«, »eine Autobiographie als Kritik des erlebten Zeitalters von unbeschreiblich strengem und heiterem Glanz, naiver Weisheit und moralischer Würde«, wie Thomas Mann sagt, und an den Romanen »Empfang bei der Welt« und »Der Atem«. Zuletzt arbeitete er an einem Buch, das sich mit dem Preußenkönig Friedrich II. beschäftigen sollte, aber nicht mehr fertig wurde, eine späte Antwort auf den 1914 veröffentlichten Essay »Friedrich und die Große Koalition« seines Bruders. Aber nicht den strahlenden Sieger wollte er zeichnen, den stolzen Herrscher, sondern den jungen, geprügelten, gedemütigten Jüngling, das Opfer tyrannischer Erziehung. Der Titel verriet schon das Kontrastbild: »Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen«.

Das alles war mit beispielloser Willenskraft und Disziplin den schwierigen Lebensumständen abgetrotzt. »Ich verzweifle bald«, schrieb Heinrichs Frau Nelly im September 1941 an ihre Freundin Salomea Rottenberg in New York. Sie wünschte, sie hätte fünftausend Dollar, dann könnte ihr Mann arbeiten, »wie und was er will«. »Jetzt ist es uns nicht möglich das Essen für Morgen zu beschaffen. Wie kann man da arbeiten?« Er ignorierte klaglos die Misere und setzte nach anfänglicher Skepsis auch seine publizistischen Aktivitäten fort, resümierte 1943 die zehn Jahre Hitlers, erinnerte an Carl von Ossietzky, würdigte Kisch, Döblin, Oskar Maria Graf, Feuchtwanger und Paul Merker, schickte unter dem Titel »Die Vernunft ist alles« eine Botschaft an die Sowjetunion, blickte noch einmal auf Emile Zola, gedachte der toten Gefährten Max Herrmann-Neiße und Stefan Zweig. Zu aktuellen politischen Ereignissen und Vorgängen schwieg er. Allen Bitten, der zersplitterten Emigration wie damals in Frankreich, als es um das Zustandekommen einer Volksfront ging, als führende Persönlichkeit zu dienen, erteilte er eine Absage.

Als der Krieg zu Ende war, kam wieder Post aus Deutschland. Nach Hause solle er kommen, schrieb man ihm, dorthin, wo man ihn dringend brauche, nach Ostberlin. Heinrich Mann öffnete die Briefe, las aufmerksam Zeile für Zeile und legte sie beiseite. Er hatte im Dezember 1944 seine Frau Nelly verloren, und seitdem war seine Situation noch trostloser geworden. Einsam und trauernd, beobachtet vom FBI, angewiesen auf die Unterstützung des Bruders, ergänzte er am 28. Dezember 1948 einen Brief an den Freund Pinkus, verfasst in französischer Sprache, nach der Unterschrift mit der Bemerkung: »Alter Schriftsteller ersten Ranges, im Ruhestand. Stets hellsichtiger Geist, dessen Gelassenheit sich jedoch in Gleichgültigkeit verwandelt.«

»Das Natürliche wäre jetzt, wenn ich mich in Berlin einstellte.« Er wusste es. Aber: »Sie werden mir zutrauen, daß die Verhinderungen beträchtlich sein müssen, wenn ich ihnen bisher nachgebe. Ich hoffe dennoch.« Das hatte Heinrich Mann im Mai 1948 an Johannes R. Becher geschrieben, der die Einladung wiederholt und ihm auch mitgeteilt hatte, dass der Aufbau-Verlag schon 1945 seinen »Untertan« herausgebracht hatte. »Wenn immer die Deutschen einen Krieg verlieren«, meinte Heinrich Mann dazu sarkastisch, »drucken sie meinen ›Untertan‹.« Katia und Thomas Mann rieten zur Rückkehr. Sie wäre eine späte Ehrung gewesen. Er zögerte. Er war alt geworden, heimgesucht von wechselnden Leiden. Zuletzt lebte er in einer kleinen Parterrewohnung, erledigte seine Einkäufe, las, schrieb Briefe, hörte Musik. »Er wird kaum gehen«, meinte der Bruder nach den vielen Gesprächen, die sie geführt hatten, »er ist, Gott weiß es, entschuldigt. Aber es schickte sich doch, daß man nach ihm verlangte«.

Nach langem Zureden entschloss sich Heinrich Mann schließlich doch noch zur Rückkehr nach Berlin, um das Präsidenten-Amt der Akademie der Künste der DDR zu übernehmen. Die Schiffspassage war schon gebucht, als er eines Morgens nicht mehr aufwachte. Es war der 11. März 1950.

Heinrich Mann: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe in 10 Bänden, Bd. 9: Oktober 1940–1950, hg. von Bernhard Veitenheimer unter Mitarbeit von Wolfgang Klein, Aisthesis Verlag, 2 Bde., zus. 1201 Seiten, geb., 298 €.

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