»Ungeduld ist konterrevolutionär«

Der Autor Sid Ahmed Semiane über den Wandel der algerischen Protestbewegung unter CoVid-19

  • Claudia Altmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie war Ihre Reaktion auf die Verurteilung des Oppositionellen Karim Tabbou am 24. März und die Inhaftierung des Journalisten Khaled Drareni sowie weiterer Aktivisten der Protestbewegung durch die Justiz?

Wut. Abscheu. Empörung. Wir wussten schon immer, dass dieses Regime unmoralisch, unethisch, prinzipien- und planlos ist. In diesen Zeiten eines pandemischen Schreckens jedoch, im Augenblick des »Waffenstillstands«, in dem die weiße Flagge durch die Protestbewegung geschwenkt wird, um so schnell wie möglich auf diesen dringlichsten humanen Notfall zu reagieren, dass dieses Regime jetzt derart unverantwortlich und scheußlich agiert, übersteigt all unsere Vorhersagen von Verachtung und Hass.

Sid Ahmed Semiane

Sid Ahmed Semiane ist Autor, Publizist und Dokumentarfilmer. Während des Konfliktes zwischen Islamisten und Staatsmacht in den 1990er Jahren war er unter dem Kürzel »SAS« Autor populärer Kolumnen in der linken Tageszeitung »Le Matin«. Über das Coronavirus in Algerien und wie die Staatsmacht die Gunst der Stunde ausnutzt, sprach mit ihm Claudia Altmann. Foto: privat

Ich habe eine Geste guten Willens erwartet, einen Schimmer von Menschlichkeit. Aber nein, im Gegenteil: Man hat es vorgezogen, sich noch wilder zu gebärden und die Muskeln spielen zu lassen. Die Haft für einen politisch integren Mann wie den Politiker Karim Tabbou völlig rechtswidrig um ein Jahr zu verlängern, ist niederträchtig. Tabbous Gesundheitszustand ist besorgniserregend. Während des Prozesses hatte er einen Schwächeanfall. Dennoch wurde der Prozess ohne ihn und ohne seine Anwälte einfach durchgezogen. Das ist ein Justizskandal. Khaled Drareni, einen jungen brillanten Journalisten, werfen sie einfach so ins Gefängnis, nachdem sie ihn wie einen Schwerkriminellen von einer Polizeistation zur anderen geschleppt haben. Sie verweigern die Freilassung anderer politischer Gefangener, anderer Journalisten, die sie willkürlich weiter gefangen halten. Dieses Regime ist nicht nur politisch illegitim, sondern auch moralisch unverantwortlich.

Während die Bürgerrechtsbewegung Hirak zu einer Ruhepause aufgerufen hat, verstärkt das Regime die Repression. Hat die Protestbewegung Situation die Kapazitäten und Mechanismen, um dem etwas entgegenzusetzen?

Der Hirak strebt freiheitliche Grundrechte an. Der Hirak hat bereits einen hohen Sinn an Verantwortung unter Beweis gestellt: Er hat einvernehmlich die Proteste und die Aktionen auf den öffentlichen Plätzen eingestellt. Mehr als ein Jahr lang haben wir demonstriert und unseren Kampf auf die Straßen im ganzen Land gebracht. Das ist eine bisher nie dagewesene Bewegung, weder hier noch woanders. Aber angesichts der Gefahr dieser Epidemie hat sich das Verantwortungsbewusstsein durchgesetzt.

Das ist keine Niederlage, kein Ausweichmanöver. Das ist eine staatsbürgerliche Antwort und eine hoch politische Geste einer Bewegung, die weiß, was und wohin sie will. Sie hat ein klares Projekt trotz einiger verdrossener Stimmen, die unermüdlich versuchen, sie auf ein zukunftsloses Geschnatter zu reduzieren. Von den Machthabern sehen wir nur, dass sie in dieser absolut ernsten Lage die Ruhepause der Bürgerinnen und Bürger schamlos ausnutzt. Anstatt beruhigender Maßnahmen, anstatt die wegen ihrer Meinungsäußerung Inhaftierten freizulassen, macht sie genau das Gegenteil. Das ist völlig unannehmbar.

Für die Menschen dagegen ist jetzt der Moment für Solidarität. Sie organisieren sich in ihren Vierteln, bilden Bürgerinitiativen und unterstützen die Schwächsten. Auch das ist eine politische Antwort und beweist, dass die Bewegung nicht zum Stillstand gekommen ist, sondern ihre Aktion lediglich auf andere Art und Weise fortführt. Damit richtet sie zugleich eine klare Botschaft an die Machthaber, dass sie größer und gutherziger ist. Sie sagt ihnen, dass sie verantwortungsbewusster und eigenständig ist.

Am Donnerstag jährte sich der Rücktritt von Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika zum ersten Mal. Sein Sturz wird als Sieg der Bewegung angesehen, die aber nach wie vor einen radikalen Wandel fordert. Sehen Sie dieses Ereignis immer noch als Sieg?

Ja, natürlich. Das ist ein Sieg, sogar ein großer und schöner. Wir haben eine Schlacht gewonnen und zwar eine große, auch wenn wir den »Krieg« noch nicht gewonnen haben. Das Regime vollzieht eine Umstrukturierung, passt sich an die Situation an, zielt genauer, setzt seine Leute wieder ein, sichert seine Festung, versorgt sich mit »Munitionsnachschub« - dies übrigens im wahrsten Sinne des Wortes. Aber nichts und niemand kann uns diesen Erfolg nehmen. Der Rücktritt Bouteflikas ist einer der wesentlichen Grundpfeiler dieser Bewegung. Aber selbstverständlich müssen wir eine Bestandsaufnahme unserer Niederlagen und Fehler ebenso wie die unserer Erfolge machen. Und unabhängig davon, wie die Protestbewegung letztendlich ausgehen wird, der Sturz Bouteflikas ist ein solcher Erfolg. Daran gibt es nichts zu rütteln.

Wie sehen Sie die Zukunft der Protestbewegung?

Ich sehe sie nicht, ich lebe sie in jedem Moment. Die Epidemie stärkt unsere Reihen, unsere Verbundenheit und unseren Respekt voreinander. Aber sie verstärkt auch unseren Zorn auf dieses bettlägerige und gefährliche System. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Bewegung gestärkt aus dieser Krise hervorgehen wird. Der Hirak ist ein Geisteszustand, der definitiv die Köpfe der Algerierinnen und Algerier erobert hat. Die Proteste auf den Straßen und öffentlichen Plätzen sind lediglich der sichtbare Ausdruck dessen. Einen Körper kann man zerschlagen. Einen starken Willen aber kann man niemals brechen. Ich weiß, dass es noch ein langer Weg sein wird, doch wir haben Zeit. Ungeduld ist konterrevolutionär.

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