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Wie ausgestorben
Feuerwehrleute tun Dienst an einer Sperre vor Neustadt am Rennsteig, weil über den Ort Quarantäne verhängt ist
Was ist schon normal in diesen Zeiten? »Na, mein kleiner verseuchter Engel«, ruft Marcel Hennig der Frau zu, die mit ihrem Auto gerade zur Sperre gefahren ist. Sarah Lützner grinst. Ihr Auto hat sie mit dem Heck stadtauswärts geparkt. In die Richtung, aus der das Essen kommen wird. Hennig berichtet, dass sie ein paar Tage ohne ihn auskommen muss. »Ich kann dir ein Bild von mir schicken, das du dir über das Bett hängen kannst«, sagt Hennig. Lützner lacht.
Es ist Montagmorgen an der Sperre; einem von drei Ortseingängen von Neustadt, der zu einem Umschlagplatz von Waren aller Art geworden ist. Essen, aber auch andere lebensnotwendige Dinge. Unter anderem für Beton, sagt Hennig, und für den Auspuff eines Trabbis. Vor allem ist hier ein Umschlagpunkt zwischenmenschlicher Beziehungen entstanden. Soweit das in der Corona-Krise möglich ist. Hennig und Lützner halten immer zwei, drei Meter Abstand. Trotzdem ist es erkennbar wichtig, dass sich diese Menschen hier sehen, dass Lützner zur Welt da draußen nicht nur über Telefon oder das Internet Kontakt hält.
Seit Neustadt am Sonntag der vorvergangenen Woche durch die Landrätin des Ilm-Kreises, Petra Enders, wegen mehrerer bestätigter Corona-Fälle im Ort unter Quarantäne gestellt worden ist, stand Hennig schon öfter an der Sperre. Er ist Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr von Großbreitenbach und gehört zu denen, die die Quarantäne überwachen. Dass niemand die Zone verlässt und niemand hineinfährt. Zugleich hilft er, die Stimmung hier hoch zu halten.
Wie Hennig und Lützner berichten, steht es um die Stimmung in dem 900-Einwohner-Dorf trotz angeordneter Isolation gut. »Im Großen und Ganzen sind die Leute wirklich umgänglich«, sagt Hennig. Diese Einschätzung teilt auch sein Kamerad Pascal Möhring, der in diesen Morgenstunden zum ersten Mal an der Sperre Dienst tut; auch er gehört zur Freiwilligen Feuerwehr von Großbreitenbach, das nur wenige Autominuten östlich von Neustadt liegt. Weil die Feuerwehrleute von Neustadt selbst von der Quarantäne-Anordnung betroffen sind, wird die Sperre von den Kameraden der umliegenden Wehren besetzt.
Sarah Lützner arbeitet für einen Pflegedienst. Die Senioren, die sie betreut, hätten sich mit der Situation arrangiert. Wie auch sie privat. »Mein Mann hat jetzt Kinderdienst«, sagt sie. Sie selbst arbeitet nun praktisch durch, die älteren Menschen in Neustadt müssen versorgt werden.
Doch von einem Lagerkoller, übertriebenen Ängsten oder Anspannung sei im Dorf nichts zu spüren. So hatten es vor einer Woche auch der Ortsteilbürgermeister Dirk Macheleidt und eine Mitarbeiterin des einzigen Supermarktes in Neustadt geschildert. Nur ganz vereinzelt hätten Einwohner versucht, die Quarantänezone über Schleichwege zu verlassen.
Die beiden Feuerwehrleute sagen, es sei wichtig, dass die Menschen in Neustadt etwas zu tun hätten. Deshalb sei es sogar ein Vorteil, dass es in der Nacht zum Montag hier oben ordentlich geschneit hat. »Da können die Leute Schnee schippen«, sagt Hennig und grinst. Einer der Einwohner baue einen alten Trabant auf, für den sei der Auspuff gewesen. »Das war eigentlich als Frühjahrsprojekt gedacht. Wird wohl jetzt schneller fertig.« Ein anderer Einwohner »hat sein komplettes Bad rausgerissen«. Für ihn ist der Beton bestimmt.
Trotz der guten Laune, die Hennig an der Sperre verbreitet, trotz seiner Scherzchen ist die Lage hier oben am Rennsteig, unweit des berühmten Wanderwegs, allerdings nach wie vor ernst. Das hat sich beobachten lassen, als ein Mann an der Sperre auftauchte, um im Supermarkt des Dorfes etwas abzuholen. Schon mehrere hundert Meter entfernt hatte er mit seinem Auto an einer Vorsperre angehalten und sich einen weißen Schutzanzug übergezogen. Sein Gesicht hatte er Mann hinter einer Atemschutzmaske verborgen. Viel Zeit hatte er dann darauf verwendet, seine blauen Schutzhandschuhe möglichst dicht über die Ärmel des Schutzanzugs zu ziehen.
Als er Neustadt nach etwa einer Viertelstunde wieder verließ, streifte er erst Handschuhe und Maske, dann den Anzug wieder ab, warf alles in sein Auto, behandelte Schuhe und Hände mit Desinfektionsspray. Ganz nach Lehrbuch war es nicht, was er da tat. Doch der Mann, der geschätzt mehr als 50 Jahre alt ist, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die Bedrohung durch Corona todernst nimmt. »In meinem Alter möchte ich mir so ein Zeug nicht an den Hals holen«, hatte er gesagt - und dann minutenlang über Menschen überall in Thüringen und Deutschland geschimpft, die im Angesicht des Coronavirus aus seiner Sicht noch immer zu leichtfertig beim Einkaufen sind, »vor allem im Baumarkt«.
Auch die Feuerwehrleute Hennig und Möhring nehmen die Lage in Neustadt ernst. »Wenn wir das nicht täten, wären wir nicht hier«, sagen sie. Bei ihren Streifenfahrten durch Neustadt lassen sie nicht einmal die Autofenster herunter. Sie fahren dann wie durch eine gänzlich ausgestorbene Welt, sagen sie. Auch Großbreitenbach, wo Möhring wohnt, wirke seit Tagen fast menschenleer. Die meisten Menschen hielten sich an die Regeln und Empfehlungen und blieben zu Hause. Aber im Inneren von Neustadt sei es noch einmal deutlich leerer und ruhiger.
Auch von dem Mann, der schließlich das Essen in einer schwarzen Thermobox an die Sperre bringt, hält Sarah Lützner deutlichen Abstand. Der Mann stellt den Behälter auf die Straße zwischen zwei Absperrgitter. Erst als er weit genug zurückgetreten ist, stellt sie die Box in den Kofferraum des Wagens. Als sie losfährt, wünscht sie Hennig noch viel Vergnügen auf seinem Posten. Und Gesundheit.
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