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Marianne Schweizer wird mariniert
Synke Köhler berichtet von Mieterglück und den fürsorglichen Praktiken der Immobilienhaie
Marianne spürte, wie die Träger ihres BHs in ihre Schultern schnitten. Die hinter ihr liegende Frühschicht hockte wie ein schweres Tier auf ihr. In den letzten Jahren wuchs das Tier immer schneller. Ebenso wie das Gefühl, dass sie ihren Patienten immer ähnlicher wurde. Dabei war heute erst Montag. Sie hatte den ganzen Tag eine Unruhe gespürt. Entlang der grauen Linoleumflure bot sich nicht viel Raum. Auf dem Esstisch vor ihr lagen das schnurlose Telefon und der Brief. Sie fuhr mit ihren Fingern über das Webmuster der Tischdecke. Gerd würde spät kommen, sie hatten nicht abgesprochen, dass Marianne anrufen sollte. Aber sie hielt das nicht aus. Sie wollte wissen, wie es weiterging. Sie strich den Brief glatt. Mit ihrem Zeigefinger tippte sie die Nummern. Mehrmals musste sie sich vergewissern. Dem beruhigenden Tuten und der damit verbundenen kurzen Hoffnung, damit davonzukommen, denn seltsamerweise hatte sie das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, folgte ein unwirsches, lautes: »Wilke«.
Marianne zuckte zusammen, sie hatte versucht, an der vor sich hin dösenden, träge blinzelnden Angst so belanglos wie möglich vorbeizukommen. Doch wie immer war diese genau in dem Moment, als sie ihr am nächsten war, aufgesprungen und hatte sie angekläfft. Marianne hätte am liebsten aufgelegt. Aber wie eine pflichtbewusste Schülerin ratterte ihr Mund ihren Spruch herunter. »Ja, guten Tag, hier ist Marianne Schweizer. Bin ich da richtig bei der Mieterberatung?«
Ein vom Abriss bedrohtes Mietshaus im Osten Berlins. Der Immobilienmarkt trifft auf eine eigenwillige und wehrhafte Haus- und Schicksalsgemeinschaft.
In ihrem klugen, spannenden und hochaktuellen Debütroman schlägt die in Dresden geborene diplomierte Psychologin und Grafikerin Synke Köhler eine thematische Brücke von der Vorwendezeit ins moderne, durchgentrifizierte Berlin. Dinge laufen aus dem Ruder. Bäume werden gefällt. Der Müll wird nicht mehr abgeholt. Die Keller werden gegen den Willen der Mieter geräumt. Die Marner Straße war immer eine Insel der Alteingesessenen im längst gentrifizierten Prenzlauer Berg. Aber jetzt sind auch sie an der Reihe. Dieter Sonntag organisiert den Widerstand, seine Frau träumt dagegen von einer Wohnung mit Balkon. Die Schweizers treffen sich heimlich mit der Hausverwalterin, Markus Amreiter, der Journalist, hat schon eine Exit-Strategie parat. Und die Studentin Kathleen will sich aus allem raushalten.
Nur Grozki, der einstige DDR-Rockstar, bringt mit seinen anarchistischen Aktionen alle richtig auf Touren. Am Ende liegt ein Haus in Trümmern und eine Leiche im Schutt. Synke Köhler nähert sich den Figuren mal mit Empathie, mal mit tragikomischer Distanz. Ihr Roman ist bissig, hintergründig, melancholisch und stellt eine alte Frage neu: Wie wollen wir leben?
Verena Wilke nahm den roten Filzstift und machte auf ihrer Liste in der ersten Spalte, die mit »Mieterkontakt« überschrieben war, hinter ›Schweizer‹ einen großen, zufriedenen Haken. Verena Wilke meldete sich absichtlich nur mit ihrem Nachnamen. Sie sagte nie: Mieterberatung. Das sorgte für die erste kleine Verunsicherung der Mieter, die Unsicherheit, ob sie die richtige Nummer gewählt hatten.
»Ja, Sie sind hier richtig. Könnten Sie, bitte, nochmal Ihren Namen wiederholen?«
»Schweizer, Marianne Schweizer.«
»Schweizer? Mhhmm?«
Verena Wilke tat so, als suche sie den Namen in den Unterlagen, sie raschelte mit Papier und Stiften. Dabei hatte sie alle Namen im Kopf, das gehörte zum Geschäft. Man musste ein Stück voraus sein. 60 Namen, das war ein Klacks. Die meisten brauchten drei Tage, bis sie sich aufrafften und anriefen. Manche riefen sofort an, die waren wie aufgeschreckte Hühner. Die musste man abwimmeln. Die musste man dazu kriegen, noch einmal anzurufen. Die nach drei Tagen anriefen, waren schon gefasst. Die hatten sich schon fast damit abgefunden. Deshalb mussten die Briefe auch samstags ankommen. Zeit zur Beruhigung und keine Zeit, eine verlässliche Auskunft einzuholen. Marianne Schweizer war für Verena also eine perfekte Mieterin. Marianne Schweizer war wie ein Glücksgriff beim Lachsfilet aus der Kühltruhe des Supermarktes, zart und rosa.
»Könnten Sie mir kurz noch die Hausnummer und das Stockwerk sagen.«
»Marner Straße 9, 4. OG rechts.«
»Moment. Na, irgendwo muss ich Sie doch finden.«
Die Mieterberaterin drehte sich auf ihrem Bürostuhl und schaute aus dem Fenster. Hinter der großzügigen Fensterfront bot sich der gewohnte Anblick. Hochhäuser, die auch nach der Wende nicht besser wurden. Eine endlose Schlange Autos bewegte sich über die Frankfurter Allee. Der Sog ging stadtauswärts. Es war der Spätnachmittagssog. Der Sog, der ein bisschen müde machte. Verena Wilke zählte die vorbeifahrenden grünen Autos, bei Nummer fünf sagte sie:
»Ah ja, hier hab ich Sie ja. Wunderbar. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Marianne hatte angerufen, weil diese Telefonnummer auf dem Brief gestanden hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr geholfen werden konnte, und sie wusste nicht, was sie sagen sollte, deshalb begann sie, den Brief vorzulesen. Die Mieterberaterin unterbrach sie: »Frau Schweizer, ich kenne den Sachverhalt.«
»Wissen Sie, wir wohnen hier schon seit 34 Jahren.«
Verena Wilke spürte ein Kratzen im Hals und dann diesen kleinen Kitzel. Sie spürte, dass, wenn man jetzt nicht einen Riegel vorschob, die Frau auf der anderen Seite anfangen würde zu weinen.
»Frau Schweizer, das ist ja eine wichtige Angelegenheit. Am besten besprechen wir das bei einem persönlichen Gespräch. Wann hätten Sie denn Zeit?«
»Ich weiß nicht. Ich muss das erst mit meinem Mann … «
»Wann haben Sie beide denn Zeit? Wäre Ihnen Mittwoch 14 Uhr recht«?
Zwei Tage, viel mehr Zeit durfte man nicht geben, sonst kam zu viel dazwischen.
»Wir werden die beste Lösung für Sie finden.«
Lösung, das war so ein Reizwort. Früher hatte Verena einen Zettel neben dem Telefon gehabt mit den Wörtern, die sie unbedingt mit einfließen lassen wollte: Lösung hatte ganz weit oben gestanden und neues Wohnumfeld, dann folgten: Beratung, Gespräch, Vertretung Ihrer Interessen, Angebot machen, abwägen, wohlfühlen, reibungslos, zuhause, Vermeidung von Komplikationen und dann noch einmal individuelle Lösungen. Inzwischen flossen die Worte aus ihr heraus. Verena spielte mit der Schnur des Telefons. Die Plastikschlingen gaben ihr das Gefühl von Nostalgie. Nostalgie für sich und die Besucher ihres Büros.
»Mein Mann arbeitet bis abends. Wir würden gern zusammen kommen.«
Mariannes Stimme wurde immer leiser.
»Abends. Hmmm. Abendtermine sind natürlich rar.«
Wieder raschelte Verena Wilke durch die Papiere auf ihrem Tisch.
»Da haben wir leider erst in drei bis vier Wochen was. Bis dahin können Sie sich nochmal in Ruhe mit Ihrem Mann absprechen.«
Verena sprach im Wir-Modus, obwohl sie das Büro ganz allein führte. Wir, das kam gut bei den meisten Ostdeutschen an.
»Wollen wir so verbleiben?«
Verena gab Frau Schweizer das Gefühl, selbst entscheiden zu können.
»Geben Sie mir zur Sicherheit noch Ihre Nummer, dann kann ich Sie kontaktieren, wenn wir eher einen Termin frei haben.«
Ohne nachzudenken, nannte Marianne ihre Nummer. Sie war gerade dabei, ein erleichtertes »Auf Wiederhören« zu sagen, …
»Auf Wieder … «
»Warten Sie, ich sehe gerade, mein Kollege hat hier einen Termin gestrichen. Was für ein Glück. Mittwoch 17 Uhr. Das wäre doch perfekt, oder?«
Während Marianne überlegte, schrieb Verena in den leeren Kalender am Mittwoch um 17 Uhr »Marianne Schweizer«. Daneben schrieb sie »Rosmarin«, weil ihr bei dem Wort Marianne Marinade eingefallen war und sie nachher nicht vergessen wollte, am Alex im Centrum Warenhaus noch Rosmarin zu besorgen. Kai hatte die Gewürzdose einfach wieder leer ins Regal zurückgestellt. Aber es lohnte nicht, sich über solche Kleinigkeiten in einer Beziehung aufzuregen.
Marianne fühlte sich überrumpelt.
»Ich bin mir nicht sicher … «
»Na, ich trag Sie einfach mal ein. Wenn es nicht klappt, dann können Sie immer nochmal anrufen. Es ist ganz unverbindlich. Sonst müssten Sie halt vier Wochen warten. Wollen Sie lieber warten?« Verena vermittelte das Gefühl, dass es nicht leicht war, einen Termin bei ihr zu bekommen. Dass diese Termine begehrt waren. Dass sie begehrt war. Und wer wollte schon warten.
»Je eher Sie kommen, desto bessere, desto maßgeschneidertere Angebote kann ich Ihnen natürlich unterbreiten. Versuchen Sie’s einfach.«
»Gut, ich werde mal fragen.«
»Also bis Mittwoch 17 Uhr«, sagte Verena.
Die Schweizers würden kommen. Verena legte auf. Marianne hörte noch einen Moment das Besetztzeichen.
Dienstag
»Hallo, ich bin Markus.«
Die weiß-beigen Turnschuhe mit roten Streifen und die dunkelblauen Jeansbeine korrespondierten nicht im mindesten mit Kathleens pinker Fußmatte. Kathleen vermied direkten Blickkontakt. Von der Kleidung oder von dem, was andere bei sich trugen, konnte man genug Rückschlüsse ziehen. In der linken Hand des Mannes sah sie ein schwarzes Smartphone in Lederhülle und einen aufgerissenen Briefumschlag. Wieder so eine Drückerkolonne, die Stromanbieter, Telefone, eine Religion oder Sonstiges loswerden wollten, mit Zeitschriftenabos war zum Glück seit Jahren niemand mehr gekommen. Kathleen suchte in ihrem Kopf nach der Marke der Turnschuhe und woher sie ihr bekannt vorkamen.
»Ja?«
»Markus Amreiter.«
»Und?«
»Wohnen Sie hier?«
»Vielen Dank. Wir sind schon versorgt.«
Ohne Vorwarnung schob Kathleen die Wohnungstür wieder zu und ging zurück in ihr Zimmer. Obwohl sie es nicht wollte, horchte sie mit einem Ohr in den Treppenflur. Sie erwartete Schritte, die sich entfernen würden, und wieder das Klingeln an anderen Türen. Aber draußen blieb es still. Nicht mein Problem. Kathleen nahm ihre Sitzhaltung in ihrem einzigen Sessel wieder ein und ihre Tätigkeit wieder auf. Sie ließ die Beine über die Seitenlehne baumeln und zog das Fitnessmagazin, das sie vorhin auf den Sessel gepfeffert hatte, unter ihrem Hintern hervor. Kathleen hatte eigentlich nur die Tür geöffnet, weil das Klingeln so verzweifelt klang, so als würde jemand Hilfe brauchen.
Amreiter stand kurz konsterniert vor der Tür. Dann drückte er erneut und entschlossen auf die Klingel … Aber Kathleen ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Das Klingeln würde aufhören, ganz sicher. Amreiter drückte den Klingelknopf ungefähr fünf Mal ruhig, sachlich, lang und intensiv, zwischendurch wartete er. Vorher war es ihm tatsächlich leicht unangenehm gewesen, das halbe Treppenhaus abzulaufen und die Klingelknöpfe zu drücken. Aber jetzt, wo er wusste, dass hier jemand zuhause war, war er nicht aus der Ruhe zu bringen. Das Einzige, was er von Kathleen, von der er noch nicht wusste, dass sie Kathleen hieß, wahrgenommen hatte, waren ihre dünnen, strohigen Haare. Die Fransen hatten sich unter ihrem Kinn nach vorn gebogen wie Schanzpfähle. Amreiter änderte den Klingelrhythmus. Didimm didimm didimmdimmdimm …
Synke Köhler:
Die Entmieteten
Satyr Verlag, 256 S., geb., 23,00 €
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