Missstände werden noch sichtbarer

Linke-Politikerin Juliane Nagel sieht autoritäre Maßnahmen in der Coronakrise kritisch

  • Fabian Hillebrand
  • Lesedauer: 5 Min.

Sachsen wählt in der Coronakrise striktere Maßnahmen als andere Bundesländer. Warum?

Sachsen ist mit Bayern einen Sonderweg gegangen, der sich von den Empfehlungen des Bundes absetzt. Statt Kontaktverboten setzt man hier auf Ausgangsbeschränkungen. Diese greifen stärker in die Bewegungsfreiheit der Menschen ein. Vor einigen Tagen ist die Allgemeinverfügung zu einer Rechtsverordnung erweitert worden. Nun kann die Polizei Bußgelder verhängen, wenn gegen die Maßnahmen verstoßen wird. Damit sind der Willkür natürlich Tür und Tor geöffnet. Vorher war es ja so, dass Anzeigen geschrieben worden sind und die dann von der Staatsanwaltschaft geprüft werden mussten. Das halte ich auch für den besseren Weg.

Jule Nagel

Jule Nagel ist seit 2014 Linke-Abgeordnete im sächsischen Landtag. Bei den Landtagswahlen 2014 und 2019 holte sie sich jeweils ein Direktmandat in Leipzig. Sie ist auch Mitglied des Leipziger Stadtrats.

Aber Sie denken auch, dass man die Einhaltung der Maßnahmen in irgendeiner Form überprüfen muss?

Besser als mit einer Allgemeinverfügung oder einer Rechtsverordnung wäre es, an die Vernunft der Menschen zu appellieren. Was ich probieren würde, wäre ich in einer verantwortlichen Position: die Leute aufzuklären über die möglichen epidemiologischen Folgen von Sozialkontakten. Informieren - und eher auf restriktive Maßnahmen zu verzichten.

Was ist mit denen, die die Gefahr immer noch nicht erst nehmen?

Ich glaube, in den Anfangszeiten der Pandemie in Deutschland gab es viel Unvernunft und Menschen, die die Gefahr verkannt haben. Aber das hat schnell abgenommen. Nach verschiedenen Ansprachen der Bundeskanzlerin und der Wissenschaftler des Robert-Koch-Institutes ist die Zahl der Versammlungen bereits deutlich gesunken. Ich finde, die Regierung hätte gut daran getan, das einfach noch ein wenig länger auszutesten und den Menschen die Chance zu geben, ihr Verhalten zu ändern.

Ein Besuch in einem Pflegeheim ist unvernünftig. Sind Bußgelder in diesen Fällen abwegig?

Gerade wenn Menschen in solchen Sammelunterkünften leben, und ich zähle jetzt mal Pflegeheime dazu, lässt sich ein Besuchsrecht auch anders regulieren. Und generell lassen sich Besuche möglich machen, die sicher sind. Mit Schutzausrüstung und an der frischen Luft beispielsweise.

In linken Kreisen munkelt man, die CDU kann nun ihre Law-and-Order-Fantasien realisieren.

Das finde ich zu überspitzt. Wir leben in einer Situation, in der bestimmte Risiken unleugbar da sind. Man muss natürlich sehr wachsam sein, dass diese Maßnahmen nicht überstrapaziert werden.

Tut die Polizei das bisher?

Was ich in Leipzig bisher erlebe, auch in Connewitz, ist eher ein vorsichtiges Agieren der Polizei. Aber natürlich fallen bestimmte Menschen mehr ins Raster solcher polizeilichen Maßnahmen. Zum Beispiel Migranten oder Obdachlose. Für Wohnungslose gibt es auch keine Ausnahmeregelungen in der Rechtsverordnung der sächsischen Regierung. Eine weitere Kritik ist, dass in dem Maßnahmenkatalog Dinge aufgezählt werden, zum Beispiel, dass bestimmte Aktivitäten nur noch mit den Lebenspartnern erlaubt sind oder man sich nur im Wohnumfeld bewegen soll. Die Begriffe sind aber nicht klar definiert. Wer ist mein Lebenspartner? Durch diese Willkür entscheidet am Ende die Polizei über solche Fragen.

Ist nun eine Zeit gekommen, in der man auch als Linker nicht in Opposition zu allen Maßnahmen der Regierung gehen sollte?

Es ist eine Zeit, in der man als Linker viel Gehör finden müsste. Politische Missstände, die wir seit Jahren anklagen, zeigen sich gerade besonders verdichtet. Die unhaltbaren Lebensumstände in Sammelunterkünfte für Flüchtlinge, die Obdachlosigkeit in unseren Innenstädten, der Mangel an Pflegerinnen, Mietprobleme. Wir müssen nicht nur jetzt, sondern auch nach der Krise auf die Tube drücken, um in diesen Bereichen Verbesserungen anzuschieben. Unsere Forderungen, die in der Zeit der Krise in einem breiteren Diskurs angekommen sind, müssen wir als Linke über die Epidemie hinaus generalisieren. Man sieht gerade, zum Beispiel an den Mietstundungen, die natürlich lange noch nicht ausreichend sind, wie schnell politische Veränderungen möglich sind. Das ist eine Chance für linke Bewegungen. Wir müssen jetzt besonders laut und widerständig sein. Ich hätte mir daher auch gewünscht, dass die Linke im Bund stärker die Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten thematisiert hätte.

In Wahlumfragen profitiert vor allem die CDU von der Krise.

Es besteht eine große Angst in der Bevölkerung. Und dann hält man sich eben an Herrschenden fest und ist auch darauf zurückgeworfen, was die machen. Andererseits setzt die CDU gerade Dinge um, die man vor Kurzem noch nicht für möglich gehalten hat. In Sachsen sitzen wir nächste Woche im Landtag und ändern wahrscheinlich die Verfassung, um die Schwarze Null aufzuheben. Davon hätte man vor wenigen Wochen noch nicht träumen können.

Ist der Diskurs in der Linken, der vor allem auf die Kritik repressiver Maßnahmen abzielt, nicht etwas privilegiert? Verkennt das nicht die Gefahr des Virus für unser aller Leben?

Ich halte nicht so viel von einer solchen Position. Einer vernünftigen linken Position muss immer eingeschrieben sein, dass man wachsam ist, wenn individuelle und bürgerliche Rechte eingeschränkt werden. Auch in Krisenzeiten. Wir dürfen uns nicht einfach einem Krisenregime unterordnen. Der Schutz der Bevölkerung und der Verzicht auf autoritäre Maßnahmen schließen sich nicht aus. Man muss natürlich aber auch anerkennen, dass es gerade Menschen gibt, die besonders gefährdet sind. Und dann sein Handeln individuell dieser Gefahr unterordnen.

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