Der Bananenkarton des Herausgebers
Ein Stück Fotogeschichte Westdeutschlands: »Wolfgang Schulz und die Fotoszene um 1980«
Der Blick führt in die Tiefe eines Raums. Das Kameraauge liegt sehr nah am Boden. Man folgt zunächst der Fläche eines Teppichbodens, auf dem dann wiederum zwei geknüpfte, mit orientalischen Mustern versehene Teppiche ausgebreitet sind. Ein aufgezogenes Fenster gegenüber der Linse überflutet das Bild mit Tageslicht. Die schwarz-weiße Fotografie wird so dunkelgrau-hellgrau. Damit wäre der formale Rahmen des Bildes geklärt. Auf dieser Fläche und in dies-em Licht jedoch geschehen Dinge, die alle Ordnung durcheinanderbringen. Gleich vorne rechts hockt ein finsterer Hund, hinten links steht ein Mann in einem großkarierten Hemd - der Fotograf Wolfgang Schulz. Das rechte Bein hält er lässig angewinkelt, die Hand mit der Zigarette am Kopf, die andere mit dem Hörer am Ohr. Im Bildvordergrund, vor einem Stapel der von Schulz herausgegebenen Zeitschrift »Fotografie«, steht auf einem Stativ eine Mittelformatkamera. Fotograf und Kamera, zuständig für die Produktion von Bildern, haben dieses Bild nicht gemacht.
Zu finden ist diese Fotografie auf dem Umschlag einer schönen Publikation, die sich mit Wolfgang Schulz und seiner Zeitschrift beschäftigt. Es handelt sich dabei um eine weitestgehend in Vergessenheit geratene Episode westdeutscher Fotografie um 1980. Tatsächlich scheint die Fotografie der 80er Jahre vergleichsweise wenig erforscht zu sein, zwischen den Experimenten der 60er und ihrer späten Anerkennung der 90er Jahre. Von 1975 bis 1985 produzierte Schulz insgesamt 40 Ausgaben seiner Zeitschrift. Die Redaktion unterhielt er im Wohnzimmer seiner Göttinger Wohnung. Finanziert hatte er die ersten Ausgaben mit einer kleinen Erbschaft, seine wechselnden Mitarbeiter bezahlte er mit unverlangt eingesandten Fotografien.
Schulz grenzte sich mit seiner Zeitschrift bewusst von anderen zeitgenössischen Fotoszenen der Bundesrepublik ab, vom dokumentarischen Formalismus der Düsseldorfer Becher-Schule genauso wie vom Heroismus des Berliner Kreises um Michael Schmid. Er selbst verstand seine Arbeit in einem Wechselverhältnis von Normsetzung und Normverachtung. In seiner Zeitschrift publizierte er sowohl inhaltliche Beiträge zur Fotografie als auch Arbeiten von Fotografinnen und Fotografen, die er (zumindest für den Moment) schätzte.
Besonders war seine Reihe monografischer Hefte mit berühmten Fotografen wie Miron Zownir, Heinrich Riebesehl und Wilhelm Schürmann. Von den Fotografinnen, deren Arbeiten Schulz in seiner Zeitschrift veröffentlichte, wäre Angela Neuke hervorzuheben, die 1982 am Rande eines Besuchs von Ronald Reagan bei einer Nato-Tagung in Bonn Polizisten und Zaungäste fotografierte. Interessant sind auch die Fotografien von Petra Wittmar, die 1979 auf eine sehr puristische und skulpturale Art Spielgeräte auf Spielplätzen in Nordrhein Westfalen dokumentierte. Die Klettergerüste, Rutschen und Schaukeln sind unbenutzt, die Orte, an denen sie sich befinden, menschenleer. Es ist gerade die Abwesenheit von Leben, die hier die Objekte zeichnet.
Es ist schwer möglich, anhand der vorliegenden Ausgaben der »Fotografie« ein Programm der Zeitschrift zu bestimmen. Dafür sind die von Schulz ausgewählten Beiträge zu unterschiedlich. Man kann jedoch versuchen, es negativ zu bestimmen. Da lässt sich feststellen, dass es besonders der sinnentleerende Formalismus war, der seinen Ärger provozierte. Schulz machte vielen seiner fotografierenden Zeitgenossen den Vorwurf, von der Moderne nur das Interesse am Formalismus übernommen zu haben, sich gegenüber Inhalten allerdings gleichgültig zu verhalten.
1982 schrieb er in einer Ausgabe mit dem Titel »Die Welt ist schön (Teil 2)«: »Formalisierte Umwelt, wie z. B. ästhetisierte Fabrikhallen, schön säuberlich verpackt in eine Fassadenwirklichkeit, die dem Betrachter nicht die Möglichkeit gibt, sich mit der dahinterliegenden Wirklichkeit auseinanderzusetzen oder auch nur einen Gedanken an die damals harte Realität zu verschwenden.« Formale Strenge war ihm wichtig, ohne das Chaos und den Schmutz des Lebens allerdings erschien sie ihm wertlos und fade. Entsprechend ist die Selbstinszenierung in der eingangs beschriebenen Coverfotografie zu verstehen, die er als Pressebild für Ankündigungen seiner Zeitschrift verwendete. Erst durch die Betriebsamkeit, die Kamera, den Mann, den Hund und all die Stapel erfährt man etwas vom Leben in der Redaktionswohnung, ohne die ordnenden Linien aber würde man wahrscheinlich nur sehr wenig erfahren.
Wolfgang Schulz hielt sich selbst in seiner Zeitschrift eher zurück - sowohl als Autor als auch als Fotograf. Dabei verdient sein vielfältiges fotografisches Werk eine nähere Beschäftigung. Dass dieses nun in den Blick der Fotografiegeschichte gerückt ist, hat mit allerlei Zufällen zu tun. Er selbst jedenfalls hat sich nicht sonderlich darum bemüht. Der Grundstock der Forschung stammt aus einem Bananenkarton, den Schulz Anfang der 90er Jahre vor seinem Umzug nach Köln auf einem Dachboden in Göttingen hinterlassen hatte. Dieser Karton landete irgendwann bei Ebay und nahm seinen Weg durch die Hände mehrerer Personen, bis das unliebsam zusammengeworfene Papier schließlich als Werk des Herausgebers der Zeitschrift »Fotografie« identifiziert wurde. Als man anschließend versuchte, ihn ausfindig zu machen, fand man ihn tragischerweise in einem Kölner Krankenhaus im Wachkoma. Umso wichtiger also, dass man sich nun seiner Fotografie annimmt.
Im Katalog sind einige Serien, die dem Fund entstammen, zu sehen. Darunter finden sich immer wieder Reihen, in denen Schulz ein Thema variiert. Da wären etwa Bilder von WG-Zimmern, in denen geordnet durch den Blick des Fotografen die Unordnung des Alltags nachvollziehbar gemacht wird, mit abgenutzten, zusammengewürfelten Möbeln, Zeitungsausschnitten an den Wänden und leeren Flaschen überall. Während die horizontalen und vertikalen Linien Ordnung suggerieren, erzählt das Material dazwischen von den Provisorien und Unwägbarkeiten des Lebens.
Reinhard Matz, Steffen Siegel und Bernd Stiegler: Wolfgang Schulz und die Fotoszene um 1980. Spector Books, 240 S., br., 28 €.
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