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Radwege in Überschallgeschwindigkeit
Berlin markiert drei neue temporäre Radstreifen in Friedrichshain-Kreuzberg, weitere sollen folgen
Um Punkt neun Uhr am Mittwochmorgen geht es los, die Bauarbeiter entladen Verkehrsschilder, Warnbaken und gelbe Markierungsstreifen von ihren Lastern. Am Bersarinplatz in Berlin-Friedrichshain beginnen die Arbeiten, um auf der Petersburger Straße auf knapp 900 Metern Länge die rechte Autospur zu einem Fahrradweg umzuwidmen. In wenigen Stunden wird die Arbeit erledigt sein. Wo bisher ein schmaler Streifen auf dem Bürgersteig, der mehr an einen Feldweg die einzige, wegen des schlechten Zustands längst entwidmete Fahrradinfrastruktur war, steht den Radlern nun eine ausreichend breite und sichere Radspur zur Verfügung.
»Wir schaffen eine Angebots-Infrastruktur in der Pandemie-Situation«, sagt Felix Weisbrich, Leiter des Friedrichshain-Kreuzberger Straßen- und Grünflächenamts. »Wenn der öffentliche Personennahverkehr wegen des Infektionsschutzes schwierig ist, müssen wir den Beschäftigten in systemrelevanten Berufen eine Alternative bieten«, so Weisbrich weiter. Immerhin verfügten 43 Prozent der Haushalte in der Hauptstadt über kein eigenes Auto. Vorrangiges Ziel sei es, »die aktuell vermehrt stattfindende Nutzung des Fahrrades unter besserer Wahrung der Sicherheitsabstände gemäß der Covid19-Eindämmungsverordnung zu ermöglichen«, so der Bezirk. Das spürbar gesunkene Autoverkehrsaufkommen lasse dies zu. Die auf die Pandemie befristete Maßnahme sei vergleichbar mit der Einrichtung temporärer Busspuren bei Schienenersatzverkehr.
Tatsächlich, so legen es die Daten automatischer Messstellen für den Berliner Fahrradverkehr nahe, ist dessen Aufkommen gar nicht gestiegen. Es stagniert eher, ist auf jeden Fall nicht so stark gesunken wie bei den Autos, das im Zentrum laut Messdaten seit den Corona-Eindämmungsmaßnahmen um ein Fünftel bis ein Drittel zurückgegangen ist.
Bereits Ende März hatte Friedrichshain-Kreuzberg mit etwas über einem Kilometer temporärer Radspur am Halleschen Ufer vorgelegt, außerdem wurde an der Zossener Straße die Aufstellfläche für Radler an einer Ampel deutlich verbreitert. Das alles ging nur in Zusammenarbeit mit der für die Hauptstraßen zuständigen Senatsverwaltung für Verkehr, Klima und Umweltschutz.
Diesen Donnerstag sollen noch die Lichtenberger Straße in Friedrichshain und die Gitschiner Straße in Kreuzberg dazukommen. »Die Firma hätte auch noch heute dafür Kapazitäten gehabt, die Halteverbotsschilder stehen aber erst seit zwei Tagen«, sagt Weisbrich. Es braucht für solche Verbote aber mindestens 72 Stunden Vorankündigungsfrist. »Wir arbeiten mit den ganz regulären rechtlichen Grundlagen«, erklärt er.
Letztlich schreibt das Mobilitätsgesetz die Einrichtung der sicheren Radinfrastruktur an den Hauptstraßen vor. »Wofür wir sonst drei Jahre brauchen, das machen wir nun in drei Tagen«, sagt Felix Weisbrich mit sichtlichem Stolz. Um dann einzuräumen, dass man doch vier bis sechs Werktage brauche. Das ist so oder so Überschallgeschwindigkeit nicht nur für Berlin. Essen, Stuttgart und weitere deutsche Städte hätten sich schon gemeldet, um die Erfahrungen des Bezirks zu nutzen. Die temporären Radstreifen waren allerdings keine Berliner Idee, zuvor haben das im Rahmen der Corona-Pandemie schon die kolumbianische Hauptstadt Bogotá und die US-Metropole New York gemacht – in deutlich größerem Umfang.
Dem Bündnis »Berliner Straßen für alle« von Verbänden und Initiativen geht es nicht schnell genug. »Um den Berlinerinnen und Berlinern zu ermöglichen, möglichst ansteckungsfrei ihre Wege zurückzulegen, benötigt Berlin für die Zeit der Corona-Krise ein dichtes Netz an provisorischer, geschützter Fahrradinfrastruktur auf den Fahrbahnen der Hauptstraßen«, forderte es in einem Offenen Brief an Senat und Bezirke am Dienstag. Diese Infrastruktur »ermöglicht noch mehr als bisher auch ungeübten Fahrradfahrer*innen den Umstieg, da sie Sicherheit und Sicherheitsgefühl bereitstellen«, hieß es weiter.
Der Berliner FDP-Fraktion ist das unheimlich. »Vorstöße von Verbänden, jetzt eine Umverteilung des Straßenraums zugunsten von Rad- und Fußverkehr vorzunehmen, sind derzeit angesichts des stark verringerten Verkehrs nicht notwendig«, ließ deren infrastrukturpolitischer Sprecher Henner Schmidt postwendend wissen. Es werde »der Versuch unternommen, die Krise für die eigenen Interessen zu nutzen und für die Zeit nach der ›Coronakrise‹ einseitig Fakten zu schaffen«. Der schwierige und komplexe Ausgleich der Interessen der verschiedenen Verkehrsteilnehmer bei der Nutzung des Straßenraums müsse stattdessen nach der Krise weiter Schritt für Schritt ausgehandelt werden, so der FDP-Politiker.
Das ficht die Senatsverkehrsverwaltung nicht an. Es würden mit weiteren Bezirken Gespräche geführt, heißt es in einer Mitteilung vom Mittwoch. »Mit den temporären Radwegen schaffen wir in der Coronakrise mehr Platz für den Radverkehr. So erreichen wir mehr Sicherheit für die Radfahrenden, auch weil die Abstandsregeln auf Radwegen besser eingehalten werden können«, erklärt Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne). Diese würden vor allem dort markiert, wo bereits dauerhaft markierte Radwege geplant seien.
Für Felix Weisbrich ist klar, dass er die einmal vorgenommene Umverteilung nur sehr ungern wieder zurückdrehen möchte. »Wir wären ja mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn wir das dann wieder zurückbauen müssten«, sagt er. Und schließlich wisse noch niemand, wie lange die Pandemie dauern werde. »Vielleicht werden es auch zwei Jahre sein«, so Weisbrich.
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