Das uneingelöste Gleichheitsversprechen
Das Buch zur Coronakrise: Thomas Piketty sieht einen partizipativen Sozialismus kommen
In Zeiten verstärkter, erzwungener häuslicher Einkehr steigen die Chancen voluminöser, im wörtlichen Sinn vielseitiger Bücher. Das wichtigste in diesem Frühjahr hat Thomas Piketty verfasst. Wenn derzeit wegen der alle und alles gleichmachenden Pandemie viele Gewissheiten infrage gestellt werden, ist auch nach dem revolutionären Gleichheitsversprechen zu fragen. Piketty analysiert in seinem auf ein überwältigendes Quellen- und Zahlenmaterial sowie auf streng wissenschaftlich ermittelten Daten gestützten Buch die (Longue durée) langfristige Ungleichheit - weltweit und zu allen Epochen der jüngeren Vergangenheit. Er untersucht die ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung, ungleiche Zugangsmöglichkeiten zu Bildung und Gesundheit, die ungleichen Partizipationschancen in Politik und Gesellschaft.
Der 1971 bei Paris geborene Professor an der École des hautes études en sciences sociales in der momentan ebenfalls zum Stillstand gezwungenen französischen Hauptstadt legt nach seinem in 2,5 Millionen Exemplaren verkauften Bestseller »Das Kapital im 21. Jahrhundert« nun ein aufregendes Manifest gegen die Ungleichheit vor - beileibe kein Aufruf zur Revolution, trotz revolutionärer Erkenntnisse und Vorschläge. Er will - wissenschaftlich fundierte - Denkanstöße für eine partizipative demokratische Diskussion geben.
Die in den »atlantischen« Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts beschworene Gleichheit wurde in den »durch und durch bürgerlichen« Revolutionen in Hinblick auf die Eigentums- und Einkommensverteilung schmählich verraten. Nach 1789 kam es in Frankreich keineswegs zu einer Umverteilung von Eigentum. Es wurde vielmehr als eines der unveräußerlichen Menschenrechte mit dem Siegel der Unantastbarkeit versehen, die sich bis heute in allen westlichen Verfassungen findet und nur wenigen zugute kommt, also Ungleichheit garantiert.
Piketty beleuchtet Ungerechtigkeiten in Sklavenhalter- und Kolonialgesellschaften sowie die »Große Transformation im 20. Jahrhundert«, um sodann den gegenwärtigen »Hyperkapitalismus« und die postkommunistische Gesellschaften zu analysieren und zu einem neuen Nachdenken über die Dimensionen politischer Konflikte heute aufzufordern. Die sozialdemokratischen Versuche, Ungleichheit abzubauen, werden in einem gesonderten Kapitel beschrieben. Im Schlusskapitel skizziert Piketty »Elemente eines partizipativen Sozialismus für das 21. Jahrhundert«. Er fordert zunächst eine progressive »Einkommensteuer«, die nach unserem Verständnis die Grundsteuer und eine hierzulande abgeschaffte, aber neu zu diskutierende Vermögensteuer beinhalten könnte. Er unterbreitet Vorschläge, wie eine Progression ermittelt werden und »gerecht« aussehen könnte. Die Einkommensteuer sollte im Wesentlichen zu einer Grundausstattung an Vermögen für jeden Bürger ab dem 25. Lebensjahr dienen. Detailliert sind seine Vorschläge für eine progressive Einkommensbesteuerung, wobei Steuern und Sozialabgaben zusammen betrachtet werden, deren Verwendung er jedoch voneinander trennt. Er plädiert für ein Grundeinkommen, das oberhalb der heute schon garantierten Sozialeinkommen liegen würde.
Piketty hält für nicht minder bedeutsam den gleichen Zugang aller zu Bildung, Gesundheit und unternehmerischer Mitbestimmung. Seine Vorschläge sind allesamt wert, diskutiert zu werden. Die Krise des Kapitalismus sei an einen Punkt gelangt, so der Franzose, an dem ein Umdenken dringend nötig ist - ebenso wie eben ein neues Gleichheitsversprechen. Der Umschwung - dies ist dem Autor besonders wichtig - müsse gewaltlos und diskursiv erfolgen.
Das neue Werk von Piketty ist ein interdisziplinäres »Gesamtkunstwerk«, vereint soziologische, volkswirtschaftliche und historiografische Studien und Erkenntnisse, bereichert durch zahlreiche aussagekräftige Grafiken und Tabellen. Wer sich näher mit den genutzten Quellen beschäftigen möchte, sei auf den online verfügbaren Anhang zum Buch verwiesen.
Thomas Piketty: Kapital und Ideologie. A. d. Franz. v. André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer und Nastasja S. Dresler. C. H.Beck, 1312 S., geb., 39,95 €.
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