Schlecht erzogen!

Kampfstern Corona (10): Mehr Familienzeit? Nein. Wir sollen die Arbeit übernehmen, die sonst Kitas und Schulen machen

  • Jasper Nicolaisen
  • Lesedauer: 3 Min.

Wie schlimm kann es denn sein, Zeit mit der Familie zu verbringen?« Diesen halb verblüfften, halb vorwurfsvollen Kommentar höre ich öfter, wenn Väter und Mütter ihr Homeoffice-/Homeschooling-Leid klagen. Erklärlich wird diese sturznaive Frage natürlich wirklich nur durch den Ärger der Fragenden, die unterschwellig damit zum Ausdruck bringen wollen, ihnen ginge es aber nun wirklich schlechter, weil sie Single und allein zu Hause seien oder immer noch jeden Tag ins verwaiste Büro müssten oder als Kleinunternehmer*in unfreiwillig Däumchen drehten, während die kleinen Rücklagen schmelzen wie die arktischen Gletscher im Klimakatastrophenfrühling.

Auch sie haben ja aber mindestens eine Herkunftsfamilie und wissen darum sehr gut, wie schlimm Zeit mit der Familie sein kann. Nein, dass geteilte Familienzugehörigkeit selbst bei leiblicher Verwandtschaft nicht bedeutet, dass man viel gemeinsam hat, weiß eigentlich jeder. Die gängige Erzählung über »die Familie« ist zwar noch immer von Romantisierung geprägt, ebenso wie die über »die Zweierbeziehung«, aus der sie abgeleitet sein soll, aber Psychoanalyse und Systemik sind inzwischen derart Allgemeingut - und decken sich so sehr mit der eigenen Erfahrung - , dass jedem klar ist, wie sehr Familie auch das Theater für Aggression, Hass und Fluchtbestrebungen ist.

Doch auch in dieser Perspektive bleibt die Familie der Ort intensiver Gefühle und größter Nähe. Eben weil man sich dort so nah ist, kann die Enge beklemmend werden, und weil man in Berührung ist, kommt es zu Reibereien, die Dialektik der Nähe. Die Pandemie fördert eine weitere Dimension von Familie zutage, die vielleicht am wenigsten gern gesehen wird. Sie ist unter anderem auch eine Reproduktions- und Verwaltungseinheit, die den kalten Zwängen des Kapitalismus geschuldet ist. Sie organisiert Versorgung und Fürsorgearbeit preisgünstig, parzelliert und reproduziert Milieus mit ihren je systemrelevanten Fertigkeiten und Ressourcen. Auch das ist keine neue Erkenntnis, doch gibt es ein gewissermaßen objektives Interesse, sie zu verkitschen und zu übertünchen - die Leute leisten diese Familienarbeit lieber und ohne Ruf nach Lohn, wenn sie ihnen nicht wie Arbeit erscheint -, aber auch ein subjektives Interesse - meine intimen Beziehungen sollen bitte lieber nicht vergleichbar sein mit Fabrik, Büro, Selbstausbeutung.

Jetzt, in der Krise, wird wieder klarer: Normalerweise organisieren wir uns zeitlich, räumlich, emotional voneinander weg, und nun sollen wir die emotionale, organisatorische, intellektuelle und körperliche Arbeit mit übernehmen, die sonst Kindergärten, Schulen, Produktionsstätten und so weiter machen. Wie wenig das funktioniert, kennt man aus Zeiten des Normalvollzugs nur, wenn die regelmäßig in Verwahranstalten aus dem Weg geräumten Kinder bei Ausflügen in den öffentlichen Raum einbrechen, der auf sie nicht vorbereitet und für sie nicht eingerichtet ist, wie die Gesichter der genervten Erwachsenen zeigen. Schlecht erzogen! Schuld an den Kindern zu sein, auch das ist Aufgabe der Familie, damit die verziehenden Verhältnisse unsichtbar bleiben dürfen. Die Sorgen bleiben immer privat.

Schön zusammengefasst hat das alles Loriot, der in seiner Filmkomödie »Pappa ante portas« (1991) den im Vorruhestand befindlichen Heinrich Lohse mit einem entrüsteten »Ich wohne hier!« das Recht einfordern lässt, doch bitteschön zu Hause zu sein, worauf die Gattin kühl und völlig richtig kontert: »Aber doch nicht um diese Zeit!« In Zeiten von Corona wird unsere Haut dünn, und die Zahnrädchen leuchten darunter hervor. An Eltern, Kindern, Großeltern sehen wir die eigene fremde Maschinenhaftigkeit. Das schmerzt.

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