»Solidarität ist das Gebot der Stunde«

Linksfraktionschef Martin Schirdewan über die verfehlte Krisenpolitik der Europäischen Union

Die Linksfraktion hat im Wirtschaftsausschuss des EU-Parlaments einen Aktionsplan zur Überwindung der Coronakrise vorgelegt. Braucht es jetzt immer noch weitere Papiere?

Es braucht politisches, entschlossenes und vor allem europäisches Handeln, um der Krise zu begegnen. Und das sehe ich derzeit auf europäischer Ebene nicht. Deshalb haben wir diesen Zehn-Punkte-Sofortplan vorgelegt. Um Möglichkeiten zu schaffen, wie die EU die in die Krise geratenen Gesundheitssysteme und die von der Pandemie Betroffenen unterstützen kann, wie gleichzeitig Mittel freigesetzt werden können für die sozial am stärksten von der Krise Betroffenen und den Schutz der verletzlichsten Bevölkerungsgruppen. Und dafür, wie wir den wirtschaftlichen Wiederaufbau jetzt schon beginnen können.

Martin Schirdewan

Martin Schirdewan (44) steht mit der französischen Politikerin Manon Aubry der Linksfraktion (GUE/NGL) im Europäischen Parlament vor. Die 39 Mitglieder der GUE/NGL arbeiten wie alle EU-Abgeordneten derzeit im Homeoffice. Trotzdem hat die Fraktion einen Sofortplan zur Lösung der Coronakrise vorgelegt. Darüber, über fehlende Solidarität in der »Gemeinschaft« und die EU nach Corona sprach mit ihm Uwe Sattler.

Foto: Die Linke

In der GUE/NGL sitzen Abgeordnete aus stärker und weniger von der Coronakrise betroffenen Staaten. Haben sie mit einer Stimme gesprochen?

Wir sind uns alle darin einig, dass Solidarität jetzt das Gebot der Stunde bei der Krisenbekämpfung ist. Denn es ist ganz klar, im Moment wird die Zukunft der Europäischen Union verhandelt. Nicht nur, wie man die Krise im Gesundheitsbereich bewältigen kann, sondern tatsächlich auch darüber hinausgehend, welche ökonomische Struktur und welche soziale Struktur die EU nach der Krise haben wird. Hinter all dem steht die Frage: Wer bezahlt die Krise? Wir sind uns einig, dass das nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein dürfen - wie es nach der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008/2009 war.

Die Regierungen sind sich in dieser Frage offenbar nicht einig. Es gibt keine Einigung zu Coronabonds.

Wir als Linke fordern die Einführung von Coronabonds. Der Hintergrund des Streits der Mitgliedsstaaten über deren Einführung hat genau diesen Hintergrund: Wie sieht die zukünftige Gestalt der EU aus und wer wird für die Krise zahlen? Die Entscheidungen der Eurogruppe sind Ausdruck mutloser Politik, die den Notwendigkeiten der Zeit nicht gerecht wird. Natürlich ist die Unterstützung von kleinen und mittelständischen Unternehmen durch die Europäische Investitionsbank richtig. Ebenso wie die Unterstützung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die von Kurzarbeit betroffen sind.

Aber die zentrale Frage ist doch, wie der wirtschaftliche und soziale Wiederaufbau gestaltet werden kann. Das, was die Finanzminister in den vergangenen Tagen verhandelt haben und was auch von der deutschen Bundesregierung unterstützt wird, ist bei Weitem nicht ausreichend. Deswegen auch der harte Widerstand vor allem aus Europas Süden. Es ist skandalös, dass etwa Mittelvergabe aus dem ESM weiter an Konditionen gebunden ist. Dahinter verbirgt sich nichts anderes als »du bekommst Geld, wenn du bestimmte Spar- und Kürzungsmaßnahmen umsetzt«. Der ESM war bislang immer an die Umsetzung von Austeritätspolitik gebunden, und dazu sagen wir als Linke ganz deutlich Nein.

Ein Argument auch der Bundesregierung gegen Coronabonds lautet, es sei schwer vermittelbar, dass etwa Deutschland für die Schulden, die in anderen Staaten gemacht werden, mit geradestehen soll.

Das Argument der Bundesregierung ist nicht wirklich schlüssig, da nur eine funktionierende Europäische Union, eine funktionierende Eurozone, Deutschland auch die wirtschaftliche Stabilität sichert. Was die Bundesregierung da macht, ist hochriskant. Daher erscheint mir die Ablehnung von Euro- oder Coronabonds vor allem sehr kurzfristig populistisch gedacht.

Die Euro-Finanzminister haben sich jetzt auf die Gründung eines recovery funds verständigt. Bislang ist das jedoch nicht mehr als ein leeres Versprechen, weil weder dessen Ausgestaltung noch Finanzierung geklärt sind. Man verschiebt die Problemlösung wieder einmal in die Zukunft. Auf Kosten der am stärksten betroffenen Länder. Einer dieser typischen faulen Brüsseler Kompromisse. Aber es geht doch nicht in erster Linie um Schuldenfragen an dieser Stelle. Es geht um die Zukunft der EU. Und da sind gemeinsame solidarische Antworten und der Schritt zu solidarischen innovativen Finanzinstrumenten gefordert.

Die Coronakrise scheint auch die internationalen Beziehungen weiter zu verändern. Stichwort Unilateralismus Washingtons.

Ja, die globalen Beziehungen und Machtstrukturen unterliegen im Moment tatsächlich einer ständigen Veränderung. Einerseits durch das weiter forcierte »America first«-Agieren der Trump-Administration, die die Welt mit Handelskriegen überzieht und internationale Institutionen wie die UNO und die Welthandelsorganisation offen infrage stellt. Auf der anderen Seite sehen wir natürlich mit China einen neuen Hegemon aufsteigen. Das ist ein globales politisches Spannungsfeld, in dem sich die Europäische Union positionieren muss. Die Frage ist, welche Rolle sie darin spielen will. Ich persönlich sehe die EU dabei nicht in der Rolle einer Großmacht, die ihre Interessen auch militärisch umsetzt, was viele sich wünschen, wenn sie von einer EU reden, die auch über Hardpower verfügt. Wenn Ursula von der Leyen und ihre Kommission von der neuen geopolitischen Rolle der EU sprechen, dann meinen sie eine EU, die tatsächlich über militärische Interventionsmöglichkeiten verfügt und diese einsetzt. Ich hingegen sehe die Rolle der Europäischen Union darin, dass sie als diplomatische Supermacht in Erscheinung tritt, als eine vermittelnde Kraft. Selbst ein paneuropäisches Projekt ist möglich, sollte sie sich verstärkt für eine neue Weltfriedensordnung einsetzen.

Werden linke Bewegungen und Parteien in Europa aus dieser Krise gestärkt herausgehen?

Die Krise bietet für die Europäische Linke tatsächlich auch eine Chance. Der zentrale Begriff, um den sich gerade alles dreht, ist der Begriff der Solidarität. Plötzlich wird intensiv diskutiert, inwieweit es sinnvoll ist, dass in europäischen Gesundheitssystemen gekürzt und privatisiert wurde. Eine Studie in meinem Auftrag zeigt, dass etwa die Europäische Kommission zwischen 2011 und 2018 die Mitgliedsstaaten 63 Mal aufgefordert hat, genau das mit ihren Gesundheitssystemen zu tun: nämlich zu kürzen und zu privatisieren. Die Folgen sehen wir heute. Diese Diskussion über das Verhältnis und den Nutzen von öffentlichem Eigentum und privatem Eigentum kann den Neoliberalismus auch in seinem Kern erschüttern. Wenn wir die Frage des öffentlichen Eigentums und des Nutzens für die Bevölkerung wieder in das Zentrum der Debatte rücken. Öffentliche Güter und öffentliche Daseinsvorsorge gehören nun einmal in die öffentliche Hand und müssen ausreichend finanziert werden können. Punkt.

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