- OXI
- Globalisierung
Die Welt als Dorf
… und das Dorf als eine ganz eigene Welt. Über Lokales und Globales in Zeiten von Corona
Seit der Londoner Schau von 1851, dieser Hinweis ist Wolfram Kaiser zu verdanken, haben Weltausstellungen den Anspruch verfolgt, die Welt als Dorf vorzuführen. Eine lokal komprimierte Variante des Globalen, eine möglichst maßstabsgetreue Miniaturversion des Großen im Kleinen. Dabei ging es aber nicht bloß um das Abbild einer neuen, damals beginnenden Zeit von Weltverkehr, Weltkommunikation und Weltgesellschaft, sondern auch um die Aktivierung einer Entwicklung, die heute Globalisierung genannt wird.
Besucht von einem lokalen, regionalen, nationalen wie internationalen Millionenpublikum, boten die Weltausstellungen die Möglichkeit, »Formen einer zukünftigen Massen- und Weltgesellschaft« zu erproben, wie es Alexander C. T. Geppert einmal formuliert hat. Dass dabei eurozentristische Perspektiven vorherrschten, dass dieses Publikum sozial sehr unterschiedliche Chancen hatte, »die Welt im Dorf« überhaupt zu sehen, ist natürlich richtig.
Aber schon für die Londoner Ausgabe von 1851 waren sechs Millionen Eintrittskarten verkauft worden, die Pariser Weltausstellung von 1900 kam auf runde 50 Millionen Besucher*innen. Überliefert ist die Geschichte eines Waisenjungen aus dem ländlichen US-Bundesstaat Tennessee, der 1.000 Kilometer per Anhalter mit Kutschen nach Philadelphia gefahren sein soll, um dort einen Sommer lang Aushilfsarbeiten zu verrichten, um sich Schlafplatz und Eintritt leisten zu können. Vom Dorf in die Welt, die sich als Dorf präsentiert.
Die Weltausstellungen waren auf eine gewisse Weise das, was heute das Internet ermöglicht: Fenster für internationalen Vergleich, Raum mit geschrumpfter Zeit, ein Kosmos verschwundener Distanz. Was bisher zwar auch schon, aber mühselig erschließbar war, etwa über Literatur, konnte hier in einem Durchgang abgelaufen werden: Traditionen, Produkte, Moden, Varianten des Politischen, soziale Praktiken, ökonomische Leistungen, Kulturen. Die Komprimierung des globalen Vielfältigen auf Dorfdimension schuf die Welt neu und veränderte die Sicht darauf. Wer die Welt als Dorf gesehen hatte, kehrte anders in sein Dorf zurück. Ein Spannungsfeld von Lokalität, Nationalität und Globalität hatte es auch zuvor schon gegeben, nun wurde es gleichsam umgestülpt: Das Ferne rückte näher, das Nahe, Besondere wurde, weil mit dem Entfernten vergleichbar, allgemeiner. Auch wenn es damals Wortschöpfungen wie »glokal« noch nicht gab.
»Dann kam der kaputte Traktor dazwischen«
Sarah und Sebastian Spindler über den Traum vom Ökolandbau, das Leben und Arbeiten mit 137 Ziegen und wie man auf 30 Hektar ein bisschen die Welt retten kann
Natürlich ist es kein Zufall, dass die Welt als Dorf erfahrbar wurde zu jener Zeit, als sich die Art und Weise von Produktion, Handel, Konsum radikal veränderten. Was uns als Welt-Dorf oder Dorf-Welt erscheint, fiel nicht vom Himmel. Ökonomiekritisch wurde die Wende mit dem »Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz« für ihre Produkte erklärt, das »die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel« jagen lässt. »Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.« Vom Dorf zur Welt und zurück. »An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.« Man kann ergänzen: und der Dörfer.
In Zeiten der Corona-Pandemie könnte es klug sein, »die Kirche im Dorf zu lassen«. Meint hier: So richtig es ist, auf die Ursächlichkeit bestimmter Prozesse, Entscheidungen, Auswirkungen der Krise in den kapitalistischen Weltverhältnissen hinzuweisen, so wenig ist damit schon alles gesagt. Ein Hoch auf die Fähigkeit, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen gerade dann zu ertragen, wenn die Sehnsucht nach Eindeutigkeit am größten ist.
In der Welt, die unser aller Dorf ist, geht der Nachbar ganz anders mit der Corona-Krise um – und ist deshalb nicht auch für uns »wahr«, was dort als richtig erscheint? In dem Dorf, auf das die Welt geschrumpft ist, ist zugleich jeder davon betroffen, was sein Nachbar tut oder unterlässt – und wäre deshalb nicht mehr Koordination und Kooperation an der Tagesordnung? Und das Dorf, das real ist und von dem es Millionen auf der
Welt gibt, ist es in Zeiten der Pandemie nun Zuflucht oder Bedrohung?
Man liest jetzt viele Texte, die einer schon länger grassierenden Ich-Mode folgen, also Gesellschaftliches vorrangig durch die Brille persönlicher Betroffenheit zu sehen, die das Dorf als Schutzraum preisen. Man könne Ausgangssperren auf dem Land leichter aushalten, heißt es dann. Außerdem soll das Dorf für Viren »ein hartes Pflaster« sein. Zwei Klicks weiter steht dann ein Bericht darüber, wie Corona in einem sächsischen Dorf »besonders stark wütet«. Zehn Prozent der Bewohner*innen in Quarantäne.
In einem anderen Beitrag wird ausgemalt, wie im autoritär regierten Belarus »das Leben ganz normal weiter« geht: keine Einschränkungen wegen der Pandemie. Erst stand »Weißrussland ist das gallische Corona-Dorf« über dem Text. Bis irgendwem aufgefallen ist, dass man die gefährliche Meinung eines Präsidentendiktators, das Virus sei »nicht anders als eine Psychose«, nicht unbedingt mit den »Unbeugsamen« aus dem Asterix-Kosmos zusammenbringen sollte. Man darf an dieser Stelle auch an andere aktuelle Präsidenten denken.
Apropos Asterix. Diese vom ausgerechnet jetzt verstorbenen Zeichner Albert Uderzo mitgeschaffene Welt steht für eine fröhliche Widerständigkeit, die noch in einer alten Innen-Außen-Wahrnehmung verhaftet ist: Jenseits der Holzpfähle lauert die Bedrohung. In dieser Logik erscheint der Ausbau der Befestigungsanlage noch sinnvoll, was auch an denen liegt, die da draußen ihre Römer-Helme spazieren tragen.
In der echten Welt ist das keine Lösung mehr. Wo das Dorf mehr und mehr Abbild der ganzen Welt wird, und die Welt zum globalen Dorf zusammenrückt, ob nun freiwillig oder nicht, müsste das Spannungsfeld von Lokalität, Nationalität und Globalität anders ausgehalten werden. Die alte Parole »in eins nun die Hände« mag in Zeiten einer Pandemie schief in der Landschaft herumstehen. Ihrem Sinn nach bleibt sie richtig.
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