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Ostern auf dem Mittelmeer - Eine Chronik
Der Covid-19-Ausbruch ist zu einem Vorwand geworden, um das Ertrinkenlassen auf See zu normalisieren.
In nur einer Woche sind mehr als tausend Menschen in mehr als zwanzig Schiffen aus Libyen über das Mittelmeer geflohen. Geholfen wurde ihnen nicht. Der Covid-19-Ausbruch ist zu einem Vorwand geworden, um das Ertrinkenlassen auf See zu normalisieren. Eine ziemlich unvollständige Chronik.
6. April. Die »Alan Kurdi« rettet 150 Menschen, die in zwei verschiedenen Holzbooten aus Libyen aufgebrochen sind. Bei der ersten Rettung interveniert ein Schiff der sogenannten lybischen Küstenwache. Schüsse in die Luft sorgen für Panik, einige Flüchtlinge springen über Bord.
Bei einer zweiten Rettung am selben Tag sind mehrere Handelsschiffe in der Nähe. Keines von ihnen kommt den Flüchtlingen zur Hilfe. An diesem Tag wird noch ein dritter Notruf abgesetzt. Aber niemand antwortet.
7. April. Am früher Morgen treibt ein Schiff mit achtzig Flüchtlingen an Bord in weniger als 70 Seemeilen vor der italienischen Küste. Die europäischen Behörden reagieren nicht. Den ganzen Tag treiben die Menschen im gleichgültigen Schatten eines Flugzeuges der europäischen Grenzschutzagentur Frontex auf dem Meer herum. Und sie treiben durch die Nacht, ohne Nahrung oder Wasser.
Am Morgen des 8. April, nach zwei Tagen und drei Nächten ohne Hilfe, kommen siebenundsechzig Überlebende an den Ufern von Lampedusa an. Am selben Tag schloss Italien seine Häfen. »Italien ist kein sicherer Ort mehr«, heißt es in dem neuen Dekret, das am 8. April in Rom unter dem Vorwand des Ausbruchs von Covid-19 unterzeichnet wurde.
Das Bundesinnenministerium in Deutschland bittet in einem Schreiben private Seenotretter, ihre Arbeit im Mittelmeer einzustellen. In dem Text, den »nd« öffentlich machte, heißt es: »Angesichts der aktuellen schwierigen Lage appellieren wir deshalb an Sie, derzeit keine Fahrten aufzunehmen und bereits in See gegangene Schiffe zurückzurufen.«
9. April. Dass sich Malta und Italien darum herumbinden wollen, Flüchtlinge aufzunehmen, ist keine große Neuigkeit. Das haben sie die letzten Monate immer wieder versucht, die Coronakrise ist nur ein neuer Vorwand. Ganz anders die Neuigkeiten von der anderen Seite des Meeres. An diesem Tag erklärt sich Tripolis zum »unsicheren Hafen«. Der Grund ist nicht der Virus, sondern die von General Haftar angeordneten Bombenanschläge. Bombenanschläge, die in Libyen seit Mai 2014 geschehen. Die Regierung Al-Sarraj, die die internationale Gemeinschaft seit 2017 anerkannt und unterstützt hat, schließt ihre Häfen jedoch erst jetzt für ihre eigenen libyschen Patrouillenboote.
Während alle Häfen für unsicher erklärt werden, nähert sich etwa fünfzehn Meilen vor der Küste der Insel ein Schiff der maltesischen Streitkräfte einem Boot von Flüchtlingen. Die geben später an, die Soldaten hätten ihr Boot sabotiert. Fest steht: Es gibt keine Rettung. Das Boot mit sechsundsechzig Personen an Bord ist seit mehr als vierzig Stunden ein paar Dutzend Kilometer von der Insel entfernt. Die maltesische Marine wird sie erst in der Nacht retten, nach fünf Tagen auf See, mehr als vierzig Stunden nach Erhalt des Notrufs.
10. April. Da kein Rettungsschiff in Betrieb ist, sind die Flugzeuge von Frontex die einzigen Zeugen der schrecklichen Szene des tödlichen Meeres. »Wie ist es, Menschen langsam von oben sterben zu sehen?«, fragt die Organisation Alarm Phone. Auf der Alan Kurdi warten 150 Menschen auf die Zuweisung eines sicheren Hafens. Die italienische Leitstelle braucht 24 Stunden, um zu beantworten, ob man dem Rettungsschiff mit Essen aufhelfen könne. Man kann nicht. Eine Person muss in der Nacht zum Freitag notevakuiert werden.
11. April. Mit panischer Stimme berichtet eine Frau von einem Flüchtlingsboot im Mittelmeer.»Wir sind nicht okay, wir sind nicht okay«, ruft sie. Sie sei schwanger, an Bord befänden sich ein kleines Kind und mehrere bewusstlose Menschen.
Um auf die Lage der Frau und 46 anderen Menschen veröffentlicht »Alarm Phone« Mitschnitte des Telefonats mit dem Boot. Insgesamt vier Notrufe werden an diesem Tag ausgelöst: 120 Personen auf zwei verschiedenen Schiffen befinden sich jetzt im maltesischen SAR-Gebiet. 55 Menschen treiben in internationalen Gewässern und weitere 85 in einer unbekannten Position zwischen Libyen und Lampedusa.
Derweil ist das deutsche Rettungsschiff »Alan Kurdi« mit 149 Flüchtlingen an Bord ist weiterhin auf der Suche nach einem sicheren Hafen. Die Lage an Bord des Schiffes auf dem Mittelmeer hat sich leicht entspannt, nachdem die italienische Rettungsleitstelle Unterstützung mit Lebensmitteln zugesagt habe. Die Lieferung von Reis, Couscous, Müsliriegeln und Kartoffeln sei am Samstagvormittag von einem Küstenschiff überbracht worden, sagte »Sea Eye«-Sprecher Gorden Isler dem Evangelischen Pressedienst. Eine Beherbergung so vieler Menschen an Bord bleibe aber weiterhin problematisch.
12. April. Für die 149 geretteten Flüchtlinge auf dem deutschen Rettungsschiff »Alan Kurdi« im Mittelmeer kommt etwas in Bewegung. Italien erklärt sich bereit, für die Flüchtlinge innerhalb weniger Stunden ein Quarantäne-Schiff zur Verfügung zu stellen. Das Rettungsschiff der Regensburger Organisation Sea Eye ist in internationalen Gewässern vor der italienischen Stadt Palermo angelangt. Die Migranten könnten aufgrund der Gesundheitslage nicht in einem italienischen Hafen an Land gehen, teilte der italienische Katastrophenschutz mit. Unklar bleibt also weiterhin, wo die Menschen letztlich an Land gehen könnten.
Zugleich wächst die Sorge um ein Boot mit Dutzend Flüchtlingen an Bord, das vermutlich im südlichen Mittelmeer gekentert ist. Dabei handle es sich vermutlich um eines von vier Booten, die am Vortag mit der Notruf-Initiative »Alarm Phone« Kontakt aufgenommen hatten, teilte die Berliner Hilfsorganisation Sea-Watch am Sonntag auf Twitter mit. Das Boot mit 85 Menschen an Bord sende keine Signale mehr. »Wir müssen annehmen, dass alle ertrunken sind, da es keine Infos über Rettungen gibt.« Nachts kommt ein weiteres Rettungsschiff im zentralen Mittelmeers an. Das baskische Schiff »Aita Mari«.
Am Montag, dem 13. April teilt die EU-Grenzschutzagentur Frontex in Warschau mit, sie habe vier von ihr beobachtete Boote orten können. Zwei hätten Sizilien erreicht, zwei weitere befänden sich in der Seenotrettungszone von Malta.
Auf der italienischen Insel Sizilien berichten die Behörden, am Ostermontag seien 77 Menschen bei Portopalo di Capo Passero in der Provinz Syrakus angekommen. Zuvor hatten bereits lokale Behörden in Pozzallo nach Angaben der Nachrichtenagentur Ansa am Sonntag über die Ankunft von rund 100 Migranten berichtet. Die meisten davon seien auf einer landwirtschaftlichen Anlage untergebracht worden. Dabei gibt es nach Behördenangaben einen Corona-Fall.
Vor Malta bekommt das spanische Rettungsschiff »Aita Mari« grünes Licht für einen Hilfseinsatz. Das teilte die Nichtregierungsorganisation Salvamento Marítimo Humanitario (SMH) mit. Sie schrieb auf Twitter, dass die Besatzung der »Aita Mari« ein Boot mit 47 Migranten entdeckt habe, das vor der Küste Maltas in Seenot geraten sei. An Bord gebe es eine schwangere Frau und sechs Menschen, die wegen Flüssigkeitsmangel vorübergehend bewusstlos geworden seien.
14. April. Auf den Rettungsschiffen »Alan Kurdi« und »Aita Mari« warten vor Italien und Malta fast 200 Migranten auf eine sichere Zuflucht und bessere Versorgung. Für die 149 aus Seenot Geretteten auf der »Alan Kurdi« wird die Enge nach rund neun Tagen an Bord zunehmend zu einem Problem. Das Schiff liege vor der sizilianischen Stadt Palermo. Italien habe »Solidarität gezeigt« und mehrfach Essen geliefert. Die Behörden haben angekündigt, dass die Migranten für eine Corona-Quarantäne auf eine Fähre verlegt werden sollen. Die Maßnahmen lassen aber auf sich warten.
Das spanische Rettungsschiff »Aita Mari« hatte vor der Küste von Malta Dutzende Migranten aus einem sinkenden Boot geborgen. Die 43 Geretteten hätten die Nacht auf dem kleinen Schiff verbracht, teilte die Nichtregierungsorganisation Salvamento Marítimo Humanitario (SMH) mit, die die »Aita Mari« betreibt.
Da Malta die Aufnahme verweigert, fordert man einen sicheren Hafen. Die Besatzung versorgt die Migranten »so gut wie möglich«. Die Wetterverhältnisse werden immer schlechter. Malta hat nach Angaben der spanischen Organisation die Entsendung eines Hubschraubers mit einem Arzt und Hilfsmaterial zugesichert.
In nur einer Woche sind mehr als tausend Menschen in mehr als zwanzig Schiffen aus Libyen geflohen. Ihre Hilfeschreie blieben so unerhört wie selten jemals zuvor. Hunderte von Menschen wurden ohne Hilfe auf See zurückgelassen. Die Anzahl der vermissten Personen ist unbekannt.
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