Das Talent wird wichtiger

Corona verändert den Fußball: Erlernte Automatismen fehlen, andere Trainingsformen bestimmen das Spiel

  • Andreas Morbach
  • Lesedauer: 4 Min.

Passübungen, Technik und Laufen: Fußballer müssen ohne Körperkontakt trainieren - auch online. Das Arbeitsgedächtnis kann dabei helfen. Noch wichtiger wird die Qualität der Einzelspieler.

Von Andreas Morbach, Köln

Wenn Markus Gisdol in diesen Tagen durch Köln radelt, kommt der 50-Jährige öfter mal ins Staunen. »Auch wenn die Fans nicht ins Stadion dürfen, man spürt, welche positive Energie hier nach wie vor vorhanden ist«, erzählt der Cheftrainer des 1. FC Köln fünf Wochen nach dem letzten Auftritt seiner Mannschaft in Mönchengladbach - dem ersten Geisterspiel in der Geschichte der Fußball-Bundesliga. Es war die bislang letzte Partie, die in der höchsten deutschen Spielklasse ausgetragen wurde. Seit Anfang vergangener Woche dürfen die Profiklubs zumindest wieder trainieren - unter Corona-Bedingungen.

»Das ist tatsächlich nicht einfach«, stellte Gisdol dabei schnell fest. Denn mit normalem Training auf Wettkampfniveau habe das noch nicht viel zu tun. Weil die Spieler die Abstandsregeln beachten und Körperkontakt sowie Zweikämpfe vermeiden sollen, stehen am Geißbockheim und auch bei der Ligakonkurrenz bislang Passübungen, Lauftraining und technische Feinarbeit im Mittelpunkt. »In unseren Trainingsbüchern sind keine Corona-konformen Trainingsformen vorgesehen«, sagt Gisdol. Und gleichzeitig schimmert am Horizont der derzeit noch aktuelle Plan der Deutschen Fußball Liga, Anfang Mai den Spielbetrieb wieder aufzunehmen.

Die Branche steckt in einem Zwiespalt - der sich auch nicht so rasch auflösen dürfte. »Man wird erst relativ spät dazu kommen, im Training wieder im gewohnten fünf gegen fünf zu agieren. Deshalb ist jetzt die Kreativität der Trainer gefragt, das mit ihren Spielern irgendwie zu kompensieren«, kommentiert Professor Daniel Memmert die aktuelle Lage im Gespräch mit »nd«. Der gebürtige Franke leitet an der Deutschen Sporthochschule Köln das Institut für Trainingswissenschaft und Sportinformatik, das unter anderem für die deutsche Nationalmannschaft Gegneranalysen erstellt. Memmert rät den Vereinen in der momentanen Lage, intensiv mit Videosequenzen und Onlineangeboten für die Profis zu arbeiten. »Die Visualisierung taktischer Dinge ist ganz wichtig. Die sollte man in der Zeit, in der man nicht auf dem Platz ist, verstärken.«

Zudem weist Memmert auf die Bedeutung des Trainings kognitiver Prozesse hin: »Die Spieler sollen an ihrem Arbeitsgedächtnis, an ihrem Aufmerksamkeitsfenster arbeiten. Auch das kann man sehr gut online machen.« Zusätzlich, so der 48-Jährige, müssten die Klubs versuchen, Strategien und taktische Abläufe mit Webkonferenzen aufzufangen. Aber auch das in der Vergangenheit Geleistete wird bei einem Neustart laut Memmert zum Tragen kommen. »Diejenigen, die ein in allen Facetten qualitativ gutes Training vor Corona genossen, also eine gute Basis haben, werden eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, Spiele zu gewinnen.«

Der Kölner Sportwissenschaftler sieht bei einem möglichen Neustart dieser Saison aber noch einen zweiten Aspekt als entscheidend an: das Talent. »Es gibt die Fleißigen, die über viele Trainingseinheiten auf ein hohes Level gelangen, beispielsweise am Ende einer Einheit noch 200 Freistöße schießen. Und es gibt die Talente, die das, wie auch immer, mit 20 Freistößen schaffen. Oder auch mit gar keinem«, erwähnt Memmert, der daraus schlussfolgert: »Gerade in den ersten ein, zwei Spielen werden sich diese beiden Faktoren durchsetzen. Da werden die Ergebnisse tatsächlich ein bisschen anders sein, als man das vorhersehen würde.«

Memmert, der selbst Inhaber einer Fußballtrainer-B-Lizenz ist, prophezeit beim Wiedereinstieg in den Spielbetrieb auch eine gewisse Nivellierung. »Der Zweikampf wird von allen Vereinen aktuell nicht groß trainiert. Deshalb dürfte das Level in den ersten Spielen nicht ganz so zweikampfintensiv sein - oder aber es gibt viele Gelbe Karten, weil man es ein wenig überzieht«, glaubt er und fügt hinzu: »Es werden generell nicht so große Unterschiede zwischen den Mannschaften sein. Sie werden auf einer etwas niedrigeren Stufe als vor Corona ähnlich performen.«

Ob dem Fußball gegenüber anderen Sportarten und Berufsgruppen aber überhaupt eine Extrawurst gebraten werden soll? Diese Frage betrachtet der Kölner Trainingswissenschaftler überaus kritisch. »Es ist ganz schwer zu erklären, warum Fußballer im Training oder im Wettkampf Elf gegen Elf spielen dürfen sollten, und wir unseren Kindern das Bolzen auf der Straße oder das Spielen auf Spielplätzen verbieten«, findet Daniel Memmert. Gleichzeitig betont er: »Der Fußball hat eine absolute Vorbildfunktion, und die kann er in der jetzigen Zeit sehr schön demonstrieren. Denn wenn Thomas Müller etwas sagt, hat das noch mal einen anderen Stellenwert als wenn das irgendjemand anderer in Deutschland sagt.«

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