Pflegemissstände sind noch offensichtlicher

Das aktuelle Versicherungssystem treibt alte Menschen in die Heime, statt sie in den eigenen vier Wänden fit zu halten

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

In Deutschlands Altenpflege laufen die Dinge seit Jahrzehnten in die falsche Richtung. So weit, so allgemein bekannt. Die Coronakrise hat die permanente Misere nun noch weiter verschärft. Politiker verweisen an dieser Stelle gerne auf klamme Kassen und auf eine überforderte Pflegeversicherung hin. Doch die Probleme liegen tiefer, in den falschen Anreizen, die von Regierung und Wirtschaft gesetzt werden.

In Deutschland stehen, wie in den meisten EU-Ländern und Großbritannien, Geld und Markt als Steuerungsinstrumente im Mittelpunkt. Ein Pflegedienst erhält beispielsweise mehr Geld, wenn seine Patienten hilfloser und unselbstständiger werden; Krankenkassen müssen weniger zahlen, wenn »Kunden« ins Heim kommen, weil dann die Pflegeversicherung übernimmt. Letztlich wollen Heimbetreiber, Pflegedienste, Sanitätshäuser, Vermittler, all jene, die vom System profitieren, diesem möglichst viel Geld entnehmen - die anderen, also Pflege-, Krankenkassen und Staat, wollen möglichst wenig hineingeben. »Weil aber die Anreize, die die deutsche Pflegeversicherung setzt, wenig mit den Bedürfnissen der Menschen zu tun haben, orientieren sich auch die Interessen der Akteure nicht daran«, fasst der Fachjournalist Christoph Lixenfeld seine Grundsatzkritik zusammen.

Das Ergebnis: Es mangelt an niedrigschwelligen Angeboten, und viel zu viele Menschen werden in Heime gesteckt. Es geht auch anders. So steht etwa jedem älteren Dänen ein häusliches, betreutes Training pro Tag zu. Rehabilitation zu Hause, statt Pflegenotstand im Heim.

Ein Prinzip, welches übrigens bereits in den 1970er Jahren in der BRD erfolgreich praktiziert wurde, als Zivildienstleistende in der »Offenen Altenfürsorge« tätig waren und alte Menschen daheim besuchten. Wichtiger für deren Gesundheit als die reinen Dienstleistungen - vom Einkaufen bis zur einfachen Pflege - waren Gespräche und menschliche Zuwendung. Eine ähnlich gute Rolle spielte wohl »Schwester Agnes«, die mobilen Gemeindeschwestern in der DDR. Mit der Privatisierung und Kommerzialisierung der Altenbetreuung wurden diese Ansätze von Politik und Verbänden nicht mehr weiterverfolgt.

Selbst wenn man Lixenfelds Meinung teilt, dass man das Rad nicht zurückdrehen kann, unterbreitet er in seinem Buch »Schafft die Pflegeversicherung ab!« radikale Vorschläge. Er will mehr niederschwellige Angebote: Fitnesstraining daheim und in der Klinik, mehr Zeit für die Pflege in den eigenen vier Wänden. Weil solche Angebote »in den Zwischenräumen« fehlen, sind die Heime in Deutschland übervoll. Volle Heime rechtfertigen dann den Bau weiterer Heime, die sich wiederum ihre Nachfrage schaffen.

Ein verhängnisvoller Teufelskreis. Der kostet. Eine konsequent niederschwellige »Pflege« wäre dagegen besser für die Menschen und (selbst bei korrekten Löhnen) ungleich preiswerter zu haben als die Massen-Heim-Haltung. Eigentlich.

Wenn die gröbsten Qualitätsmängel im ganzen Ü60-System zugunsten der Betroffenen abgestellt würden, dürften die Kosten unterm Strich jedoch noch steigen. Und dass es auch um »Man-Power« geht, betont der Verband für häusliche Betreuung (VHBP): So füllen 300 000 Betreuungskräfte aus Polen, Rumänien und Bulgarien die Lücken im deutschen Pflegesystem aus - als ob es nicht auch genügend Alte in Osteuropa gäbe.

Lixenfeld will die Betreuten dennoch entlasten. So sollen Heimbewohner nur noch einen kleinen, fixen Sockelbetrag zahlen. Die deswegen höheren Kosten für die Pflegeversicherung könnten über drastische Beitragserhöhungen finanziert werden, was politisch nicht durchsetzbar erscheint, oder über einen ebenso üppig wachsenden Steuerzuschuss. Dadurch würde die Finanzierung endlich auf eine breite Basis gestellt. Keine Utopie, wie die Coronakrise belegt.

Die Pflegeversicherung gehöre dann abgeschafft, so Lixenfeld. Krankenkassen »ohne Pflegeversicherung« hätten dadurch ein eigenes Interesse, ältere Menschen möglichst lange fit zu halten. Gleichzeitig sollten die (privaten) Pflegeanbieter ähnlich wie in Schweden zu Dienstleistern der Kommunen werden. In den Niederlanden hatte ein Neustart des Systems zu einer steuerfinanzierten Rekommunalisierung vieler Pflege- und Hauswirtschaftsleistungen geführt. Diese Maßnahmen, betont Lixenfeld, waren ein »großer Erfolg«.

Von solchem Reformmut ist Deutschland noch weit entfernt. Lixenfelds lebendige Reportage bietet jedoch einen notwendigen Ansatzpunkt für einen Systemwechsel. Das »Bündnis für fairen Wettbewerb in der Altenpflege«, bestehend aus Wohlfahrtsverbänden und der Gewerkschaft Verdi, wirbt ebenfalls dafür. Unterm Strich liegen genügend Gutachten und Erfahrungen vor, die eine politische Neubewertung ermöglichen würden.

Christoph Lixenfeld Schafft die Pflegeversicherung ab! Warum wir einen Neustart brauchen. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020, Taschenbuch, 224 Seiten, 12,00 €.

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