- Politik
- EU-Mindestlohn
»Rettungsschirm nicht nur für Autos, sondern auch für Menschen«
Die EU will wichtige soziale Projekte wegen der Coronakrise verschieben - das Gegenteil wäre richtig, meinen viele
»Zu viele waren nicht da in dem Moment, wo Italien eine ausgestreckte Hand benötigt hätte. Deshalb ist es richtig, das wir uns dafür entschuldigen«, mit so viel Selbstkritik startete die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Donnerstag noch in eine Sondersitzung des EU-Parlaments.
Lehren scheint die EU-Kommission daraus allerdings keine gezogen zu haben. Nur wenige Stunden nach von der Leyens Rede wurde Donnerstagabend ein internes Dokument geleaked, das zeigt, dass wichtige soziale Projekte der EU wegen der Coronakrise verschoben werden sollen. Unter anderem soll die europäische Arbeitslosenrückversicherung erst 2021 angegangen werden. Das Thema europäische Mindestlöhne wird mit dem Arbeitskommentar versehen, dass die Debatte andauere, wann das Thema auf die Tagesordnung kommen solle. Angedacht war für den Mindestlohn eigentlich das zweite Halbjahr 2020, die Arbeitslosenrückversicherung sollte im vierten Quartal behandelt werden.
Einige Beobachter hatten eher mit einem »mehr« an Sozialen auf EU-Ebene gerechnet. Die neue EU-Kommissionschefin von der Leyen hatte ihre Amtszeit mit einigen sehr eindeutigen Versprechen begonnen, unter anderem europäische Mindestlöhnen. Für die seit Langem diskutierte EU-Arbeitslosenrückversicherung schienen sich mit der Coronakrise die Vorzeichen sogar zu verbessern: Einige Medien meldeten, dass die EU-Kommission Anfang April einen Vorschlag dazu vorlegen würde. Ein solcher Arbeitslosenrückversicherungsmechanismus sähe vor, dass nationale Arbeitslosenleistungen in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit mit EU-Mitteln aufgestockt werden könnten. Doch nun scheint das Gegenteil eingetreten zu sein – und das Thema vorerst vom Tisch.
Auf »nd«-Anfrage wollte die EU-Kommission die geleakten Dokumente zu vertagten Projekten nicht kommentieren. Man sei weiter »stark engagiert« die Prioritäten von Beginn des Mandats umzusetzen. Die Corona-Krise werde allerdings einen Einfluss auf die Umsetzung des 2020er-Arbeitsprogramms der Kommission haben, räumte eine Sprecherin ein.
Für die Grüne Europa-Angeordnete Katrin Langensiepen, Vize-Vorsitzende des Sozialausschusses im Europaparlament, ist die angedachte Verschiebung ein Schock: »Ich finde es bestürzend, dass gerade jetzt die sozialen Themen hinten herunter fallen. Wenn das wirklich so kommt, haben wir aus der Krise von 2009 rein gar nichts gelernt«, sagt sie »neues deutschland«. Populisten und Nationalisten begännen schon beginnen, die Situation auszunutzen,warnt Langensiepen. »Sie versuchen den Frust gegen die EU zu schüren à la: 'Guckt euch doch doch dieses Europa an – es lässt euch jetzt in dieser Situation im Stich.«
Gegenüber »nd« forderte sie einen »Rettungsschirm nicht nur für Autos, sondern für auch für Menschen.«
Auch die SPD-Europaabgeordnete Gabriele Bischoff nennt die aktuelle Prioritätensetzung gegenüber »nd« »fahrlässig«. »Ich hätte die Arbeitslosenrückversicherung vorgezogen, statt sie ins Ungewisse zu verschieben.« Sie befürchtet, dass die Arbeitslosenrückversicherung auf die lange Bank geschoben, oder gar verbummelt werde.
Die EU-Kommission begründet die angedachte Verschiebung der Arbeitslosenrückversicherung in ihrem internen Arbeitspapier indirekt unter anderem mit dem Verweis auf den neuen Mechanismus 'Sure'. Dieser soll den Ländern helfen, Kurzarbeit zu finanzieren. 'Sure' hat die EU-Kommission tatsächlich in der Coronakrise auf den Weg gebracht.
Das Programm hat jedoch seine Tücken: Es ist zeitlich befristet – und basiert auf Krediten. SPD-Parlamentarierin Bischoff weist auf ein weiteres Problem hin: »In vielen Ländern wird das Kurzarbeitsprogramm nicht helfen. In Spanien beispielsweise haben viele Menschen nur befristete Verträge und sind schon arbeitslos beziehungsweise werden arbeitslos, statt in Kurzarbeit zu kommen. «
Doch kann man es sich angesichts einer möglicherweise kurz bevorstehenden Wirtschaftskrise überhaupt leisten, so teure Programme aufzulegen? »Ja«, meint der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen. »Sowohl der Mindestlohn als auch die Arbeitslosenrückversicherung sind investive Maßnahmen, die helfen den Konsum zu stabilisieren. Gerade die Rückversicherung ist eine Art eingebauter Stabilisator.« Gerade die Arbeitslosenrückversicherung würde helfen, die Krise gut zu überstehen.
Auch die Pläne zu europäischen Mindestlöhnen weiter zu konkretisieren, hält er für sinnvoll: Von der Direktive zur Umsetzung werde den Ländern ohnehin ein Zeitraum von zwei bis drei Jahren gewährt. »Da bewegen wir uns bereits in einem Zeitraum nach dem Höhepunkt der Krise.«
Eine kleine Hoffnung gibt es: Dass wichtige Länder wie Deutschland ihr Gewicht in der EU bei den sozialen Fragen einbringen. Ab Juli geht die Ratspräsidentschaft an Deutschland – da hätte die Bundesregierung noch einmal mehr Chance, für sie wichtige Projekte in den Fokus zu stellen. »Ich hoffe natürlich auch darauf«, sagte Bischoff.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.