Triage bleibt höchst umstritten

Kritiker sehen eine mögliche Priorisierung von Patient*innen als verfassungswidrig an

  • Kirsten Achtelik
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen mögen manche zu der Annahme verleiten, das Schlimmste an der Coronakrise wäre bereits überstanden. Allerdings befürchten unter anderem die Bundeskanzlerin und die Helmholtz Gesellschaft, dass die Zahlen der Infizierten und Schwerkranken wieder ansteigen. Im schlimmsten Fall könnten dann - wie schon in anderen Ländern - die Intensivbetten und Beatmungsgeräte knapp werden. Dann müssten Ärzt*innen entscheiden, wer eine lebensrettende Behandlung bekommt.

Ende März hatte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) ihre Empfehlungen zur Priorisierung von Patient*innen veröffentlicht. Auch der Deutsche Ethikrat ging in seinen Ad-hoc-Empfehlungen darauf ein. Beide wurden dafür scharf kritisiert.

Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) schreibt in seiner Stellungnahme, dass »solche Abwägung von Leben gegen Leben zuvorderst gegen die elementarsten Grundsätze der deutschen Rechtsordnung« verstoßen. Anders als vom Ethikrat angenommen dürfe der Gesetzgeber solche Festlegungen aber nicht den Ärzt*innen selbst oder deren Fachgesellschaften überlassen, sondern müsse »im Rahmen der verfassungsrechtlich Zulässigen Kriterien für die Abwägung aufstellen«.

Zwar schreiben die Fachgesellschaften, dass eine Priorisierung nicht allein aufgrund des Alters oder sozialer Kriterien vorgenommen werden dürfe, aber die Ausrichtung auf vermutete verbleibende Lebensqualität oder Erfolgschancen könnten indirekt doch dazu führen, dass ältere, vorerkrankte oder behinderte Menschen benachteiligt würden, befürchten die Betroffenen. Das FbJJ hält eine solche Auswahl für »verfassungsrechtlich nicht zulässig«, da Personen »ihr Recht auf Leben trotz hoher Erfolgsaussicht der Behandlung im konkreten Einzelfall abgesprochen werden könnte, weil anhand abstrakter Kriterien die Erfolgsaussicht einer anderen Person als höher bewertet würde«.

Auch der Behindertenbeauftragte der Regierung, Jürgen Dusel, kritisierte die Empfehlungen gegenüber der Funke Mediengruppe und bat die DIVI um eine Klarstellung zu ihren Empfehlungen: Er habe »die Sorge, dass in einer Notsituation dieses Papier falsch ausgelegt« werde. Außerdem forderte er eine Bundestagsdebatte zu der Frage, nach welchen Kriterien in den Krankenhäusern entschieden werden solle, wer weiter behandelt werden würde.

Der Präsident der DIVI, Uwe Janssens, sagte dem nd, die Empfehlungen würden zurzeit überarbeitet, das Ergebnis solle »Gegenstand einer noch breiteren Debatte werden«, Kommentare seien willkommen. Eine »Version 2.0« werde ungefähr zwei Wochen nach Ostern veröffentlicht. Dass die Empfehlungen »in der Bevölkerung deutliche Ängste« geweckt hätten, führt Janssens auf »Missverständnisse« und »Verzerrungen« zurück.

Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik der Grünen Bundestagsfraktion, hatte Anfang April eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt, ob diese gesetzgeberischen Handlungsbedarf in Bezug auf mögliche Triage-Kriterien sehe. Das Gesundheitsministerium verwies auf die Veröffentlichungen von Ethikrat und Fachgesellschaften und wollte keinen weiteren Handlungsbedarf erkennen. Rüffer zeigte sich »fassungslos« über diese Antwort: Anstatt »dafür zu sorgen, dass auch behinderte Menschen eine gleichberechtigte Chance auf Zugang zur lebensrettenden Therapie« bekämen, leiste »die Bundesregierung damit verfassungswidrigen Empfehlungen Vorschub«. Sie sieht das »Parlament in der Pflicht, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten«. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte hingegen erneut, er sehe keine Notwendigkeit, per Gesetz zu regeln, welcher Patient im Fall fehlender Ressourcen zuerst medizinisch versorgt werden solle.

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