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Radsport von der Rolle
Die besten Straßenprofis treten beim »Digital Swiss 5« virtuell gegeneinander an
Oje, die Sonne: Beim Proberennen auf der Rolle hatte am Dienstag alles bestens geklappt bei Lennard Kämna. Doch als der Radprofi vom Team Bora-hansgrohe am Mittwochabend im Sauerland im heimischen Zimmer auf seinem aufgebockten Rennrad saß und am ersten großen Radsportwettkampf seit Beginn der Coronakrise teilnahm, merkte er schnell, dass er den Lauf unseres Zentralgestirns nicht genügend bedacht hatte.
Zwar dauerte die erste Etappe des virtuellen Rennens »Digital Swiss 5« nur eine Stunde lang, doch während der 23-Jährige in seinem Zimmer vorm offenen Fenster strampelte - ein Ventilator verschaffte ihm zudem eine Art Windzug - fiel plötzlich der Schein der untergehenden Sonne genau in sein Gesicht. Zusätzlicher Schweiß, zusätzliche Anstrengung: »Tja, das hatte ich vorher nicht bedacht, das war nervig«, sagte der Tour-de-France-Starter von 2019: »Aber als die Sonne in mein Gesicht fiel, war das Rennen für mich eh schon vorbei.«
Mit dem Ausgang des Wettkampfs an der Spitze hatte der verheißungsvolle Jungprofi nichts zu tun: Kämna wurde 52. unter 56 Konkurrenten aus aller Welt. Allesamt traten sie zuhause auf ihren aufgebockten Rennrädern in die Pedale. Zwar blieb Kämna das Schicksal seines Schweizer Rivalen Mathias Frank erspart, dessen Avatar wegen Internetproblemen beim Start einfach stehenblieb, doch auch Kämna sah die Konkurrenz zumeist nur von hinten: »Ich lag schon bald abgeschlagen auf Platz 30, da habe ich beschlossen, mich nicht mehr vollkommen zu verausgaben«, verriet er gegenüber »nd«.
Wenig überraschend siegte beim Wettstreit am Heimsportgerät stattdessen Rohan Dennis aus Australien, der Zeitfahrweltmeister von 2018 und 2019. Rohan Dennis’ Avatar reckte im Livestream nach 26,62 Kilometern auf der Strecke von Agarn nach Leukerbad und 851 Höhenmetern kurz beide Arme in die Luft, während man den echten Dennis in einem kleinen Screen noch stoisch treten sah - in seiner Garage. Er fand es »ziemlich cool«, bemerkte er im folgenden Interview: »Das erste Rennen seit langem, das fühlt sich gut an!«
Ausgeheckt haben die »Digital Swiss 5« die Organisatoren der Tour de Suisse: Auf den fünf Etappen treten bis Sonntag jeweils drei Fahrer pro Team an - auf ihrem Rollentrainer zu Hause. Sie sind dabei via Internet miteinander verbunden. Auf ihren Monitoren sehen die Profis in Echtzeit die Original-Streckenabschnitte der Schweizrundfahrt. Der Computer überträgt den jeweiligen Widerstand via Rolle auf die Pedale der Fahrer - wenn es auf der Strecke bergan geht, wird auch das Treten an der Rolle entsprechend schwerer.
Natürlich spielen im Digitalrennen Taktik und Teamstrategie keine Rolle, gefragt ist das schiere Bolzen: Wer auf Dauer am meisten Kraft (im Verhältnis zum Körpergewicht) auf die Pedale bringt, gewinnt. Sieger Rohan Dennis trat bei den Anstiegen dauerhaft über sechs Watt pro Kilogramm, wie man im Livestream verfolgen konnte. »Das ist schon ordentlich«, räumte auch Lennard Kämna ein.
Das Schweizer Fernsehen SRF übertrug das virtuelle Rennen live, im Studio strampelte sich der Schweizer Profi Michael Schär vom CCC-Team auf der Rolle ab und beantworte während seines Ritts auf den zwölften Platz zwischendurch auch lächelnd noch die ein oder andere Frage der Studiomoderatoren. Im internationalen Livestream versuchten derweil die beiden Sprecher, das Rennen zu einem historischen Ereignis hochzujazzen und den Rollenwettbewerb zu einer neuen Radsportvariante: Virtuelle Rennen seien nun eine weitere akzeptierte Spielart des Radsports neben Straßenrennen, Cyclocross, BMX oder Bahnradsport: »Absolutely fascinating!« schwärmten die Reporter.
Der Zuschauer am heimischen TV indes konnte der Begeisterung noch nicht so recht folgen; wie er da einer Computersimulation zusah und dem Surren von 56 Rennrädern auf den Rollen lauschte - nur ab und an unterbrochen vom Keuchen eines Radfahrers. Die Profis selbst saßen zumeist vor weißen Wänden, der Italiener Antonio Nibali setzte sich vor dem Kamin in Szene und lächelte beständig in die Kamera. Belgiens »Wunderkind« Remco Evenepoel (20, Vizeweltmeister im Einzelzeitfahren) hingegen fuhr sein Rennen im heimischen Garten und hatte dafür seine eigene Werbewand aufgestellt - zwischendurch nahm er sein Handy und grüßte Fans via Instagram.
Auch Lennard Kämna nutzte die Gelegenheit für Außergewöhnliches. Er fuhr das Rennen mit Airpods im Ohr: »Musik hören, das kann ich auf der Straße ja nicht machen«, freute er sich. Ob er gern auf der Rolle fahre? »Ich trainiere vielleicht zweimal im Jahr auf der Rolle«, antwortet Kämna. »Von daher nein.« Derlei Digitalrennen hätten aber durchaus eine Berechtigung: »Für Hobbyfahrer!«
Bei den weiteren Teilstücken des Schweizer Wettbewerbs muss Kämna nicht mehr aufs Rad: Die Teams dürfen unterschiedliche Fahrer einsetzen. So kommen auch prominenteren Teamkollegen Kämnas noch an die Reihe, beispielsweise der Berliner Maximilian Schachmann, der Paris-Nizza-Gewinner des Früjhahres 2020. Schachmann fährt am Sonntag mit. Lennard Kämna wird derweil normal trainieren - auf der Straße, bei Wind, Wetter und hoffentlich: Sonne.
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