Wenn’s ums Geld geht - Liechtenstein
Benjamin Quaderers Debütroman »Für immer die Alpen« erzählt von einem der größten Steuerskandale der Geschichte
Was, wenn der Grundstein des gegenwärtigen Finanzfeudalismus nicht etwa erst 1973 gelegt wurde, als die internationale Nachkriegswährungsordnung von Bretton Woods zerfiel, der Gold-Standard als globaler Maßstab obsolet wurde und in Chicago die erste Wertpapierbörse für Derivate eröffnete? Und auch nicht 1989, als der neoliberale Finanzkapitalismus mit dem realsozialistischen Warschauer Vertrag seinen größten Feind verlor? Und schon gar nicht erst 2008, als die weltweite Finanzkrise nur noch eine weitere Gelegenheit bot, per »Schock-Doktrin« (Naomi Klein) die sozialen Ungleichheiten zu verschärfen? Was, wenn all das schon 1926 seinen Anfang nahm, als nämlich das kleine Fürstentum Liechtenstein die Grundlagen für sein Treuhandwesen schuf, mit dem es globalen Konzernen und privaten Geschäftsleuten mit zu viel Kleingeld in der Portokasse die Möglichkeit eröffnete, über komplexe Stiftungskonstruktionen haufenweise Schwarzgeld im Zwergstaat zu parken?
Ebendiese Konstruktion aber nahm 2008 erheblichen Schaden, als der ehemalige Angestellte der Liechtensteiner LGT-Bank, Heinrich Kieber, durch den mutmaßlichen Verkauf geklauter Daten an den Bundesnachrichtendienst einen der größten Steuerskandale der Geschichte verursachte. Nachdem unzählige Zeitungsartikel, Dokumentationen und Bücher über diesen Fall erschienen sind - darunter auch ein 650 Seiten starker »Tatsachenbericht« des Datendiebs selbst, den die meisten anderen Quellen allerdings überzeugend als Hochstapler und Betrüger beschreiben, hat der österreichische Autor Benjamin Quaderer, 1989 geboren und in Liechtenstein aufgewachsen, dieser schillernden Gestalt nun auch einen postmodernen Schelmenroman gewidmet.
Quaderers Debüt »Für immer die Alpen« bringt es selbst nur auf knapp 600 Seiten und lehnt sich zum Teil stark an das Buch Heinrich Kiebers an, den er als »Johann Kaiser« aus dem Zeugenschutzprogramm heraus an unbekanntem Ort minutiös seine eigene Version der Geschichte rekonstruieren lässt (und zwar unter anderem mit sehr vielen Fußnoten, was vor allem für Hörbuchfreunde eine gewisse Herausforderung darstellt).
Anders als Kieber aber, der seine Erzählung erst 1997 mit einer Entführung in Argentinien beginnt, greift Quaderer zunächst auf die reiche Tradition des Schelmenromans von Grimmelshausens »Simplicissimus« über Sternes »Tristram Shandy« bis zu Grass’ »Blechtrommel« zurück und lässt den Helden seine Geschichte mit Vorgeschichte und Schilderung der eigenen Geburt und frühesten Kindheit noch anheben.
Und das gehört dann auch zu den stärksten Passagen im ohnehin stärkeren Teil des Buches, in dem Quaderer, ausgehend von einigen wenigen Eckdaten aus Kiebers Leben, seinen eigenen Liechtensteiner Kleinstaat-Kosmos erschafft: diese elf Dörfer zwischen Schweizer Alpenrhein und dem österreichischen Vorarlberg. Aus diesem Kosmos bricht Kaiser, Sohn eines Liechtensteiner Fotografen und einer spanischen Verkäuferin, allerdings schon sehr bald aus. Als die Mutter nach einem Streit die Familie verlässt, kommen die Kinder ins Heim, aus dem Johann ausbüxt, um seine Mutter in Barcelona zu suchen - ohne Erfolg - und dort schließlich unter falscher Identität die elitäre Schweizer Schule zu absolvieren. Er kehrt zwar irgendwann - und immer wieder - in die Heimat zurück, das aber nur, um ihr letztlich immer von ihr zu entfernen, am weitesten weg führt es ihn nach Australien.
Quaderer lässt Kaiser seine Geschichte größtenteils leichtfüßig und warmherzig erzählen und weckt damit so viel Mitgefühl für diesen Verlassenen und Verstoßenen, dass man ihm seine kleinen Tricks und Betrügereien leicht verzeiht - bis hin zum schweren Versicherungsbetrug, mit dem er sich einen neuen Wohnwagen im Wert von 100 000 DM erschleicht. Gerne glauben wir ihm auch seine Version eines wohltätigen Wohnungskaufs in Barcelona, die in Kiebers Geschichte wohl ein schwerer Betrug an guten Freunden war - was immerhin erklären würde, warum diese Freunde ihn dann später in Argentinien entführten: um ihr Geld zurückzubekommen und nicht, wie Kaiser es beschreibt, um nur noch mehr aus ihm herauszupressen.
Mit der ausführlichen Schilderung dieser Entführung begann Kieber seinen Bericht, dem Quaderer nun bis in kleine Details hinein folgt. Und womöglich ist hier auch die Lektüre des Originals lohnenswerter, das, wenn schon nicht als wahrheitsgetreu, so doch zumindest als authentisch gefaked gelten kann, während Quaderers Roman mit den langatmigen Ausführungen seinen tollen Drive etwas verliert. Ist die Episode in Kiebers Erzählung stimmig als Ausgangsereignis platziert, das letztlich zum Datenklau führt, um sich für die vermeintlichen Fehler der Liechtensteiner Justiz in diesem Fall zu rächen, fehlt Quaderers zunehmend anstrengender Gesamtanlage - mit Arztprotokollen, geschwärzten Passagen und Parallelmontagen - am Ende die dramaturgische Plausibilität.
Immerhin konsequent für diesen Schelmen- und Hochstaplerroman, und dabei wie fast alles blendend erzählt, ist dann zwar die metafiktionale Auflösung der Erzählinstanz selbst. Besonders originell ist dieser Einfall allerdings nicht.
Quaderer hat mit »Für immer die Alpen« einen hochambitionierten, famos-fabulierlustigen Liechtenstein-Roman geschrieben und damit ein durchaus beachtliches Debüt - der ganz große Wurf ist ihm aber (noch) nicht gelungen.
Benjamin Quaderer: Für immer die Alpen. Luchterhand Literaturverlag, 592 S., geb., 22 €. Das Hörbuch, gelesen von Johann von Bülow, erscheint beim Hörverlag. Heinrich Kieber: Der Fürst. Der Dieb. Die Daten, 2010. https://bit.ly/2KvNXIh
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