Freiheit nicht ohne Gleichheit

Der britische Sänger Billy Bragg hat ein sehr politisches Buch geschrieben

  • Dieter Hintermeier
  • Lesedauer: 8 Min.

Mr. Bragg, Sie haben sich jüngst mit einem sehr politischen Buch zu Wort gemeldet. Was hat Sie dazu bewogen zu schreiben, statt mit Protestsongs gegen die Ungerechtigkeiten in der Welt vorzugehen?

Die letzten Jahre waren eine Herausforderung für diejenigen von uns, die glauben, dass der erste Schritt auf dem Weg zu einer besseren Gesellschaft darin besteht, den eigenen Zynismus zu zügeln. Dem Drang, den Kopf wieder unter die Bettdecke zu stecken, bis es besser wird, kann man nur schwer widerstehen. Aber ich habe immer geglaubt, dass das beste Gegenmittel gegen Zynismus Aktivismus ist. Deshalb habe ich versucht, auf diese Herausforderung zu reagieren, indem ich ein Buch schreibe, anstatt bei meinem üblichen Format, dem polemischen Lied, zu bleiben.

Billy Bragg

Der britische Sänger und Songschreiber Billy Bragg, Jahrgang 1957, hat in seinen Liedern immer wieder Partei für die Arbeiterklasse, die Armen und Abgehängten ergriffen. In Großbritannien war er ab Anfang der 80er Jahre erfolgreich. Mit Einnahmen aus seiner EP »Between The Wars« unterstützte er 1984/ 1985 die streikenden britischen Bergarbeiter. Legendär sein Song »There Is Power In A Union«, der 2014 in dem Film »Pride« über eine Gruppe homosexueller Unterstützer des Bergarbeiterstreiks noch einmal zu neuen Ehren kam.

1986 trat Bragg auf dem Festival des politischen Liedes in mehreren Städten der DDR vor begeistertem Publikum auf. Auch zu den Festivals 1987 und 1989 kam er auf Einladung des FDJ-Zentralrats. Beim letzten Mal wurde er nach eigenen Angaben aber früher als geplant zur Rückreise genötigt, weil er, wie er 2012 in einem Interview sagte, sich bei einem Konzert für die Öffnungspolitik der Sowjetunion ausgesprochen, aber zugleich betont habe, eine solche sei in der DDR wegen der Mauer nicht möglich. Unser Autor Dieter Hintermeier sprach mit Bragg über sein soeben auf Deutsch erschienenes neues Buch.

Foto: dpa/Andy Whale

Wie sieht die Welt heute für Sie aus?

In der Gefangenschaft autoritärer Führer, die versuchen, die Realität der Situation, in der wir uns befinden, zu leugnen - sozial, wirtschaftlich und ökologisch. Der Autoritarismus beginnt nicht, wenn Ihr Nachbar mitten in der Nacht von Staatsbeamten weggeschleppt wird. Er beginnt, wenn die Mächtigen das Gefühl haben, ungestraft handeln zu können. Und genau da sind wir jetzt. Nicht nur in Einparteienstaaten wie China und Russland, sondern auch in westlichen Demokratien wie den USA und Großbritannien.

Erklären Sie das bitte.

Man hat den Eindruck, dass viele Dinge nicht mehr stimmen. Auf der einen Seite dominieren Algorithmen und Künstliche Intelligenz unser Leben, auf der anderen Seite gibt es viele Populisten an der Macht, die das Rad der Entwicklung zurückdrehen wollen.

Wie ist dieser Widerspruch zu lösen?

Die meisten Menschen wollen sich einfach nur sicher fühlen - in ihrer Arbeit, ihrer Gesundheit und ihrem Mietverhältnis. Der Aufstieg der Künstlichen Intelligenz bedroht ihr Sicherheitsgefühl, indem er ihnen das Gefühl gibt, dass sie keine Kontrolle über ihre eigene Situation haben. Dieser Verlust an Handlungsfähigkeit treibt den Zorn von Brexit, der Gilets Jaunes (Gelbwesten-Bewegung in Frankreich - d. Red.) und Trumps Unterstützung unter den Wählern der Arbeiterklasse in Amerika an. Kann man den Menschen vorwerfen, dass sie in eine Zeit zurückkehren wollen, in der sie einen Job auf Lebenszeit, ein bezahlbares Haus und eine Rente hatten?

Können Sie dann die Menschen verstehen, für die der Populismus eine politische Alternative ist?

Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie Sie den Begriff »Populismus« definieren. Ich würde argumentieren, dass es sich um einen Begriff handelt, der von Mainstream-Kommentatoren geprägt wurde, um jede Abweichung von der neoliberalen Überzeugung zu beschreiben, dass es keine Alternative zur Globalisierung gibt. Indem sie die Andersdenkenden auf diese Art und Weise einrahmen, können die Zentristen die Illusion aufrechterhalten, dass sie die vernünftige Partei sind und so den Status quo aufrechterhalten.

Der Populismus schickt Großbritannien auf die Reise nach »old England«. Wofür ist er noch verantwortlich?

Wenn Sie meine Definition von »Populismus« akzeptieren, würde ich sagen, dass er für die Parlamentswahlen von 2010 und 2017, das Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands 2014, die Wahl von Jeremy Corbyn zum Labour-Führer 2015 und die Abstimmung für den Brexit 2016 verantwortlich ist. All dies waren Manifestationen einer Ablehnung der Art und Weise, wie Politik von unserer professionellen politischen Klasse in Westminster betrieben wird. Ja, Brexit war eine Ablehnung der EU, aber der Zorn dahinter kam aus der Frustration der Wähler, die das Gefühl hatten, dass ihre Stimme im britischen Parlament nicht mehr gehört wurde.

Jeremy Corbyn ist zurückgetreten. Ist er letztlich ein Opfer des Brexit oder seiner eigenen Partei geworden?

Ich glaube nicht, dass irgendein Labour-Führer das Drei-Wort-Wahlprogramm der Tories vom »Get Brexit Done« hätte überwinden können. 17 Millionen Menschen haben dafür gestimmt, die EU zu verlassen, und sie alle haben die Partei unterstützt, die versprochen hat, das Zaudern zu beenden und es wahr werden zu lassen. Labour war also das Opfer von Brexit, dem ursprünglichen Plan der Tories - sich selbst eine unverwechselbare Plattform in einer post-ideologischen politischen Landschaft zu geben. Gleichzeitig wird es immer wahrscheinlicher, dass es innerhalb der Bürokratie der Labour-Partei Kräfte gab, die aktiv daran arbeiteten, Corbyn daran zu hindern, die Wahlen von 2017 und 2019 zu gewinnen. Wenn dies wahr ist, müssen Köpfe rollen.

Welche Rolle spielte hier der Populismus?

Diese eben genannten Beispiele deuten darauf hin, dass der »Populismus« seine Wurzeln weder in der Linken noch in der Rechten hat. Vielmehr ist er Ausdruck des Widerstands gegen die zentristische Tendenz, sich bei der Politikgestaltung den Märkten zu unterwerfen.

Kann der Populismus in seiner nationalistischen Ausprägung die Globalisierung aufhalten, vor der viele Menschen in Europa Angst haben?

Ungeachtet dessen, was die Neoliberalen glauben mögen, ist die Globalisierung nicht wie das Wetter, ein Phänomen, das unabhängig von unserer menschlichen Tätigkeit auftritt. Es ist ein System, das auf Entscheidungen von Einzelpersonen beruht und als solches verändert werden kann. Die Frage ist, ob es zum Wohle aller genutzt wird.

Hat die Coronapandemie das Ende der Globalisierung eingeläutet und befördert der Virus damit den Aufstieg eines neuen Nationalismus?

Die Globalisierung hat zu einer Epidemie des Outsourcings geführt, die, wie die Pandemie gezeigt hat, große Lücken in der inländischen Produktion von lebenswichtigen Gütern und Ausrüstungen hinterlässt. Und so wie wir uns in unseren Häusern eingeschlossen haben, so hat jede Nation ihre Grenze für die Dauer der Epidemie geschlossen. Die Weltwirtschaft wird sich irgendwann wieder öffnen, aber die Regierungen werden sich sicherlich darum bemühen, die Widerstandsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften gegen künftige Schocks zu stärken. Ich denke also, es wird einen Rückschritt von der Globalisierung geben, und wirtschaftlicher Nationalismus könnte durchaus in den Vordergrund treten.

»Fake News« ist zu einem zentralen Begriff in der politischen Auseinandersetzung geworden. Auch jetzt wieder. Wozu dient dieser Kampfbegriff?

Er hat aus Fakten eine Frage der Meinung und der Wahrheit gemacht. Das ist nichts anderes als die persönliche Perspektive eines jeden einzelnen. Die sich von Tag zu Tag ändern kann.

Die Freiheit treibt Sie in Ihrem Buch immer wieder um. Hat die moderne Welt mit ihren schier unendlichen Kommunikationsmöglichkeiten den Menschen die Freiheit gebracht, die diese sich wünschen?

Die digitale Interkonnektivität hat die vom Kapitalismus versprochene Wahlfreiheit gebracht, aber nicht die Freiheit von Ausbeutung. Diese Freiheit ist das treibende Prinzip des Sozialismus. Viele hübsche Dinge sind jetzt per Mausklick verfügbar, aber Mechanismen für den wirtschaftlichen Wandel sind nicht im Dropdown-Menü enthalten.

Was bedeutet dann Freiheit und Emanzipation für Sie?

Freiheit muss mehr sein als nur das Recht, seine Meinung zu äußern. Freiheit ohne Gleichheit ist nichts anderes als ein Privileg. Freiheit ohne Rechenschaftspflicht bringt die gefährlichste Freiheit von allen hervor: Straflosigkeit. In einer Welt, in der die Wahrheit ständig angegriffen wird, ist es entscheidend, dass wir verstehen, dass Freiheit uns nicht von der Verantwortung entbindet.

Das heißt?

Wir müssen die Freiheit anderer respektieren, ihre Meinung zu äußern, auch wenn wir mit dieser nicht einverstanden sind. Und wenn wir versuchen, die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen, sind wir auch für unsere eigenen Handlungen verantwortlich. Nur wenn wir anerkennen, dass Freiheit die drei Dimensionen Freiheit, Gleichheit und Rechenschaftspflicht erfordert, können wir hoffen, eine auf Vernunft, Respekt und Verantwortung basierende Gesellschaft mit Zusammenhalt aufzubauen.

Ist bei Ihrer Vision der Kapitalismus im Weg?

Die große Bedrohung für die Menschheit ist die Idee, dass es keine Alternative zur Globalisierung gibt. Die Neoliberalen glauben, dass der freie Markt eine Antwort auf all unsere Probleme geben kann, dass ein ständiges Wachstum die Armut lindern und den klimatischen Notstand lösen wird. Sie können sich kein anderes Wirtschaftssystem vorstellen. Aber früher konnten sich die Menschen auch nicht vorstellen, dass es eine bessere Regierungsform gibt als die Monarchie. Das hat sich geändert, und wir müssen daran arbeiten, auch den Kapitalismus zu verändern.

Spielt dabei die sozialistische Perspektive überhaupt noch eine Rolle?

Der Sozialismus fordert eine Neuorganisation der Gesellschaft, um sicherzustellen, dass jeder Zugang zu den Mitteln hat, mit denen er sein volles Potenzial erreichen kann. Das muss immer eine Option sein.

Und wo sind die fortschrittlichen Kräfte im Hier und Jetzt?

Im 20. Jahrhundert war es ein Ideal, eine Alternative zum freien Marktkapitalismus zu finden. Im 21. Jahrhundert macht der klimatische Notstand dies zu einer Notwendigkeit. Eine rot-grüne Politik, die auf die Schaffung einer nachhaltigen Wirtschaft abzielt, ist die Zukunft. Unsere Kinder fordern sie!

Billy Bragg: Die drei Dimensionen der Freiheit - Ein politischer Weckruf (Originaltitel: The three dimensions of freedom), Heyne Verlag, München 2020, 141 Seiten, 12 Euro

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.