Kreuze in Karelien

Dokumente zum Zweiten Weltkrieg von Russlands Inlandsgeheimdienst sorgen für Aufregung

  • Robert Stark, Helsinki
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Überschriften der Artikel sprechen bereits Bände: »Russland verdächtigt Finnland des Völkermordes«, übertitelte die finnische Boulevardzeitung »Ilta Sanomat« ihren Beitrag. Die staatseigene, russische Nachrichtenagentur Sputnik konterte mit »Finnische Medien rechtfertigen Aufbau von Konzentrationslagern in Ostkarelien im Zweiten Weltkrieg«. Besonders Sputnik hält sich in dieser Auseinandersetzung mit kräftigen Schlagworten wenig zurück.

In der vergangenen Woche erklärte eine russische Untersuchungskommission, sie werde prüfen, inwiefern der Umgang mit russischen Zivilisten im besetzten Ostkarelien ein Genozid gewesen sein könnte. Die Untersuchung baue dabei auf vormals geheimen Dokumenten des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB auf, die kürzlich freigegeben wurden. Tatsächlich erscheint es fraglich, ob die Untersuchung wesentliche neue Erkenntnisse verfügbar macht. Es ist bereits seit einigen Jahren bekannt, dass russische Karelier in den Lagern der finnischen Militärverwaltung massenhaft umkamen.

Finnland war als Waffenbruder Nazideutschlands im Zweiten Weltkrieg in Ostkarelien einmarschiert und hatte in den besetzten Gebieten über 25 000 Zivilisten in Lagern interniert. Es gab drei Gründe für die Maßnahmen der Militärbehörden: Erstens wurden alle ›nicht-nationalen‹ Bewohner der frontnahen Gegenden interniert, zweitens alle ›politisch unzuverlässigen‹ Bewohner, gleich welcher Herkunft, und alle ›nicht-nationalen‹ Männer der Jahrgänge 1898 bis 1924. Zur Einteilung der Bevölkerung in ›nationale‹ und ›nicht-nationale‹ Gruppen wurden auch ethnologische Untersuchungen vorgenommen. Als nicht-nationale Personen galten im Besonderen russischsprachige Zivilisten. Über 4000 Zivilisten starben in den Internierungslagern, überwiegend an Krankheiten und Unterernährung. Trotz dieser Gräuel kann von einer intentionalen, geplanten Vernichtung aller russischsprachigen Karelier keine Rede sein. Die ständige Verwendung von Worten wie ›Konzentrationslager‹ oder ›Genozid‹ durch Sputnik intendiert eine unzulässige Gleichsetzung mit den Vernichtungspolitiken Nazideutschlands.

In den vergangenen Jahren kam es von russischer Seite wiederholt zu derartigen Anschuldigungen. Auf der finnischen Seite werden diese Vorwürfe teils als Nebelkerzen und Desinformationskampagnen des Kremls verstanden, die von eigenen Gräueln während des Krieges ablenken sollen.

Eine besonders perfide Kampagne wird seit Jahren rund um das Waldgebiet Sandarmoch in Karelien geführt. Während des »Großen Terrors« 1937/38 wurden dort über 9000 Menschen erschossen. Sowjetische Bauern, ukrainische Strafgefangene und Bewohner Kareliens wurden Opfer des stalinistischen Terrors. 2018 behauptete eine Historikerkommission, dass es sich bei den Opfern in den Massengräbern um gefangene Rotarmisten handele, die von Finnen erschossen wurden.

Nachkommen der Opfer, unabhängige Journalisten und Historiker kritisierten die Untersuchungen als Versuch, die Geschichte von Sandarmoch umzudeuten. Einer der prominentesten Kritiker, der Museumsdirektor Sergei Koltyrin, wurde in einem geschlossenen Verfahren zu neun Jahren Haft wegen Pädophilie verurteilt. Er verstarb Anfang April im Gefängnis. Seine Unterstützer gehen bis heute von einem erzwungenen Geständnis aus, um ihn mundtot zu machen.

Tatsächlich ist es am Ende viel Widerspruchstoleranz, die man braucht, um diese historisch-politische Auseinandersetzung zu verstehen. Obwohl es auch eine Nebelkerze der russischen Behörden ist, sind die historischen Fakten eindeutig: Russische Zivilisten starben in den finnischen Lagern mit überproportionaler Häufigkeit. Auf der anderen Seite ist es richtig, dass finnische Historiker in den vergangenen Jahren die finnische Besatzung Ostkareliens sehr kritisch untersucht haben. Die Reaktionen der finnischen Medien zeigen, wie empfindlich dieses Thema immer noch ist.

Ein Vortrag des Autors aus dem letzten Jahr für die »Helle Panke e.V. Rosa Luxemburg Stiftung Berlin« zur Thematik Finnland im Zweiten Weltkrieg und den neueren Untersuchungen der finnischen Geschichtswissenschaften ist kostenlos hier abrufbar: https://soundcloud.com/hellepanke/robert-stark-von-wiking-bis-bruderhilfe-finnland-iiweltkrieg-die-waffen-ss

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.