Quantitative Lockerung vor Gericht
Die EU-Zentralbank stemmt sich gegen den Absturz des Euro - ist das kompetenzwidrig?
Not kennt ein Gebot. Darauf weist das Bundesverfassungsgericht die Europäische Zentralbank (EZB) hin. Kritisiert wird das billionenschwere Programm PSPP. Vor dem Kauf von Staatsanleihen hätten die Notenbanker die »wirtschaftspolitischen Auswirkungen vollkommen ausgeblendet« und allein auf die Auswirkungen für die Preisentwicklung geachtet. Das verletzte die Verhältnismäßigkeit und verstoße daher gegen EU-Recht.
Weniger umstritten als unter Juristen ist die EZB-Geldpolitik unter Wirtschaftswissenschaftlern, so sie nicht wie die meisten Kläger zu den erklärten Euro-Gegnern zählen. Der linke Ökonom Rudolf Hickel lobt ebenso den »geldpolitischen Nutzen« wie der eher wirtschaftsliberale Wirtschaftsweise Volker Wieland in seiner Stellungnahme für das oberste deutsche Gericht.
Während der Finanzkrise ab 2007 setzte der Präsident der europäischen Notenbank, Jean-Claude Trichet, und sein EZB-Rat zunächst auf das klassische Repertoire der Leitzinssenkungen, womit eine noch tiefere Wirtschaftskrise verhindert wurde. Allerdings gehört eine wirtschaftliche Belebung eigentlich nicht zu den Zielen der EZB. »Unsere vorrangige Aufgabe«, schreibt die Zentralbank, »ist es, Preisstabilität zu gewährleisten.« So steht es im Vertrag von Maastricht, den die EU-Staaten Anfang der 1990er Jahre unterzeichneten. Für Wirtschaft, Konjunktur und Beschäftigung sind danach ausschließlich die Regierungen zuständig. Doch in der Praxis zeigte sich bald, wie fließend die Grenzen sind. So wirkt sich etwa die Entwicklung der deutschen Industrie auf die Preise in der EU aus.
Den Pfad der herkömmlichen Geldpolitik verließ dann endgültig Mario Draghi. In einer Rede 2012 auf einer Investorenkonferenz in London versicherte der EZB-Chef, alles zu tun, um den Euro zu schützen. Dieses »Whatever it takes« reichte zunächst aus, um in der Eurokrise die Spekulationen gegen den Euro zu beenden. Doch drei Jahre später begann Draghi damit, Staatsanleihen aufzukaufen. Das »Public Sector Purchase Programme«, kurz PSPP, brachte Griechenland, Italien und Spanien in ruhigeres Fahrwasser. Solche »quantitative Lockerung« war nicht nur neu, sondern auch von Anfang an heftig umstritten. Auch bei den Klägern vor dem Bundesverfassungsgericht, die darin eine Staatsfinanzierung sehen, die laut Maastrichter Vertrag untersagt sei und gegen das Grundgesetz verstoße.
Wiederholt mussten sich Verfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof mit diesen Fragen befassen. Bislang gaben sie der EZB Recht. Und auch in seinem neuen Urteil bestätigt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle, dass PSPP grundsätzlich mit EU-Recht vereinbar sei.
Im Kern besteht das Programm darin, dass die Notenbank Staatspapiere und Hypothekenanleihen, die staatlich garantiert sind, kauft. Dadurch bekommen die Banken Geld, um Kredite an die Wirtschaft zu vergeben. Das soll die Konjunktur ankurbeln und dafür sorgen, dass die in der Krise zu niedrige Inflation auf das verlangte Niveau von »unter, aber nahe zwei Prozent« steigt. Da die Notenbank die Papiere nicht direkt von den Staaten kauft, sei dies keine verbotene Staatsfinanzierung. Ähnlich argumentieren andere Zentralbanken, die ebenfalls solche Programme fahren, und damit den Staaten die Schuldenaufnahme faktisch erleichtern.
Bei Ausbruch der Finanzkrise belief sich die Bilanzsumme der EZB auf rund einer Billion Euro. Seither stieg sie durch zahlreiche Maßnahmen auf 4,5 Billionen - vor Corona. Im März hatte dann auch die neue Präsidentin ihren Whatever-It-Takes-Moment. Christine Lagarde verkündete ein Mammut-Kaufprogramm für Anleihen von Unternehmen und Staaten unter dem Titel »Pandemic Emergency Purchase Programme«, kurz PEPP. Ende des Jahres dürfte die Bilanzsumme durch die Coronakrise 5,5 Billionen erreichen. Eine gewaltige Zahl. Gemessen an der Wirtschaftsleistung der Eurozone entspricht sie lediglich knapp 50 Prozent - in Japan oder der Schweiz sind es weit über 100 Prozent.
Auswirkungen auf die aktuellen Anti-Pandemie-Programme der Notenbank hat das Verfassungsgerichtsurteil nicht. Oder wie es im Urteil heißt: »Hilfsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Coronakrise sind nicht Gegenstand der Entscheidung.«
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