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Das umkämpfte Büchererbe

Gesine Lötzsch über die Lesungen am 10. Mai aus Werken, die 1933 von Faschisten verbrannt worden waren

  • Gesine Lötzsch
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit Martha Kleedörfer, einer 22-jährigen Genossin, moderiere ich in diesem Jahr das »Lesen gegen das Vergessen«. Allerdings nicht auf dem Berliner Bebelplatz, sondern im Internet. Wir haben die Veranstaltung aufgezeichnet. Martha stellte mit einer gewissen Verwunderung fest, dass im Mai 1933 nicht Schlägertrupps Bücher verbrannten, sondern Studenten. Hatten wirklich gebildete Menschen Bücher verbrannt? Die Verwunderung hat mich überrascht und nachdenklich gemacht. Ja, das können sich junge Menschen heute nicht so recht vorstellen.

Als noch nicht die rechtsradikale AfD im Bundestag saß und wir es mit der grobschlächtigen NPD zu tun hatten, hatte jeder von uns ein Bild von einem typischen NPD-Funktionär und seinen Schlägertrupps. Mit der AfD kamen studierte Menschen in die Parlamente. Unter ihnen Polizeikommissare, hochrangige Bundeswehroffiziere und Professoren. Dieses rechtsradikale Bildungsbürgertum aus der Mitte der Gesellschaft kann mit dem »Lesen gegen das Vergessen« nichts anfangen. Sie haben Tucholsky, Brecht, Feuchtwanger wahrscheinlich nie gelesen. Deshalb können sie auch nichts vergessen. Doch sie sind bestimmt nicht dumm. Sie sind Meister der Manipulation. Sie sind im Internet aktiver als die Linke. Sie verstehen es geschickt, die nationalsozialistische Karte zu spielen. Das ist eine große Herausforderung für uns.

In den vergangenen Jahren kamen zwischen 300 und 400 Menschen auf den Bebelplatz zum »Lesen gegen das Vergessen«. Sie haben mehr als zwei Stunden den Künstlerinnen und Künstlern zugehört; an ihren Lippen gehangen. Beim »Kleine Buchladen« konnten sie gleich die Bücher kaufen, aus denen gelesen wurde. Das waren richtige Bücherfeste! Das Durchschnittsalter war 60+. Das ist kein Problem. Auch Schulklassen waren dabei, die ihre Auftritte wochenlang geprobt hatten. Das Interesse ist auch bei vielen jungen Menschen da. Doch die Wissenslücken werden größer. Ich hatte einen gebildeten Studenten gefragt, ob er Anna Seghers kennt oder Majakowski. Irritiertes Schweigen. Das ist kein Vorwurf gegenüber jungen Menschen, die sicherlich vieles gelesen haben, wovon ich noch nie gehört habe. Es ist eine Beobachtung. Große Künstlerinnen und Künstler sind nicht nur in Vergessenheit geraten, nachwachsende Generationen haben sie nicht einmal kennengelernt. Anna Seghers war einmal Schulstoff!

Natürlich können wir nicht alle Bücher vor dem Vergessen bewahren. Doch wenn ich jetzt Tucholsky lese, dann wundere und staune ich über die unglaubliche Aktualität, die Präzision, den Witz und die Schreibkunst. Man glaubt, sich in einer Zeitschleife zu befinden. Besser kann man die aktuelle Situation nicht beschreiben. Wenn dann gesagt wird, 2020 ist nicht 1933, dann betrachte ich das als unverantwortliche Beschwichtigung. Die Verquickung von Umwelt- und Wirtschaftskrise, verbunden mit einer gefährlichen Pandemie, setzt ungeahnte destruktive und autoritäre Kräfte frei.

In den letzten Wochen habe ich Hilferufe von Künstler bekommen. Auch aus Mecklenburg-Vorpommern. Der Musiker Tino Eisbrenner beklagte das harte Vorgehen der Behörden gegen Menschen, die dort einen zweiten Wohnsitz haben. Sie wurden vom Amt aufgefordert, umgehend das Bundesland zu verlassen. Mit welcher Schärfe und mit welcher Härte die Corona-Maßnahmen durchgesetzt werden, jagt einem Schauer über den Rücken. Beängstigend ist auch, mit welcher Geschwindigkeit demokratische Grundrechte außer Kraft gesetzt werden und wie über Nacht völlig unbekannte Landräte und Bürgermeister in den öffentlichen Wettstreit treten, wer der härteste Hund im Lande ist. Zwischentöne, Bedenken und Zweifel werden empört zurückgewiesen oder lächerlich gemacht.

In Vorkrisenzeiten wurde in vielen Zeitungen und Fernsehsendungen die Frage gestellt: Wie wollen wir leben? Warum wird eigentlich diese Frage nicht in Krisenzeiten gestellt? Weil die Regierenden am besten wissen, was für uns gut ist? Da möchte ich große Zweifel anmelden.

Mein Wunsch wäre es, dass alle Menschen in unserem Land in jedem Jahr am 10. Mai Bücher kaufen oder ausleihen, die die Nazis aus dem Weltkulturerbe ausradieren wollten. Denn es ist noch nicht entschieden, wer den Kampf um unser Büchererbe gewinnen wird.

Lesen gegen das Vergessen, 10. Mai ab 10 Uhr unter: www.linksfraktion.de/

#lesengegendasvergessen2020

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