- Politik
- Zweiter Weltkrieg auf Rügen
Der Pfarrer als Krieger
Vergessene Geschichten von der etwas seltsam befreiten Insel Rügen.
Die Neugier lebte bereits vor einem Jahr auf. Bei einem Orgelkonzert in der Kirche von Wiek. Das sakrale Gemäuer stammt aus dem 15. Jahrhundert, die gerahmte Inschrift rechts vorm Altar ist erst knapp 60 Jahre alt. Sie ist dem Pastor Ernst Thimm gewidmet, der am 17. September 1941 gefallen ist, »im Osten als Leutnant an der Spitze seiner Kompagnie«.
Wie die Töne der Orgel, so reihen sich noch immer Fragen an Fragen. Thimms Name ist auch - wie die Namen von 65 weiteren Wieker Männern, die nicht aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt sind - in den Stein des sogenannten Kriegerdenkmals graviert. Es steht vor der Kirche, war zunächst den Toten des ersten Weltbrandes gewidmet und dient seit der deutschen Einheit ebenso der Erinnerung an die »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft 1939-1949«.
Was nun war Pfarrer Thimm? Opfer? Oder eher Krieger? Also ein Täter, der - wie es im Wehrmachtseid hieß - Adolf Hitler »unbedingten Gehorsam« leistete und daher tötend in fremde Länder einfiel. Lügt die Tafel nicht, die die Gemeinde für ihren Pfarrer anbringen ließ, so lässt sich daraus Kriegsbegeisterung ahnen. Vielleicht sprach Thimm in Kampfpausen sogar im evangelischen Feldhandbuch vorgeschlagene Gebete. Beispiel: »Segne besonders unseren Führer und Obersten Befehlshaber in allen Aufgaben, die ihm gestellt sind. Laß’ uns alle unter seiner Führung in der Hingabe an Volk und Vaterland eine heilige Aufgabe sehen, damit wir durch Glauben, Gehorsam und Treue die ewige Heimat erlangen im Reiche Deines Lichtes und Deines Friedens.«
Im Osten nichts zu suchen
Christian Ohm predigt heute in der Wieker Kirche. Mit ihm lässt sich trefflich plaudern über die Widersprüchlichkeit des Lebens gerade in der Zeit, als die Nazis Deutschland und Wiek beherrschten. Einig ist man sich mit ihm rasch, dass Thimm dort im Osten »nichts zu suchen« hatte. Auch findet der gegenwärtige Wieker Pfarrer, dass man den 8. Mai als einen Tag der Befreiung betrachten sollte. Eine Predigt, über die er nachdenkt, wäre wohl die geeignete Form dafür. Ob sie viele Zuhörer findet? Zumal die Pandemie das aktuelle Leben bestimmt.
Ohm kennt natürlich die Gedenktafel, doch über Thimm weiß er nicht das Geringste. Aber ihm fällt Ingrid Steffen ein. Sie war neun Jahre alt, als der Krieg begann, und erinnert sich ein wenig an den »sehr beliebten und stattlichen« Thimm. Verlobt sei er gewesen. Wie er »politisch stand«, habe sie als junges Mädchen freilich nicht mitbekommen, wenn sie mit den Eltern zur Bibelstunde ging.
Was bewahrt man im Heimatverein über den »im Osten« gebliebenen Kirchenkrieger? Karl-Heinz Walter, einst auch Bürgermeister in Wiek, bedauert sein Nichtwissen. Er rät, in der umfangreichen Ortschronik zu blättern, die von Günter Käning, einem einstigen Lehrer, akribisch verfasst wurde.
Die beiden 1994 im Hessischen - wo der Autor lebte - verfassten Bände lesen sich spannend. Thimm wird zweimal erwähnt. Eine Martha Utesch habe 1939 an der Kirche angeblich einen Geist gesehen. Der herbeigerufene Thimm entlarvte den jedoch als Studentenscherz. Der zweite Eintrag lässt wissen, dass Thimm 1933 - als die Nazis die Macht an sich rissen - als Hilfsprediger in den Ort kam. Die Kirche verdankt ihm eine Heizung. Doch »die Gemeindearbeit litt«, weil Thimm »in den ersten beiden Jahren« damit beschäftigt war, »3000 Urkunden« auszustellen. Was der Chronist meint, dürften Zuarbeiten für sogenannte Ariernachweise sein, mit denen die Verfolgung der Juden begann.
1939. Der Krieg gegen Polen war schnell vorbei. »Freude erfüllte die meisten Herzen«, liest man bei Käning. In Bezug auf Wiek sei nicht viel mehr zu sagen, »weil hier alles seinen gewohnten Gang ging«.
In jenem Jahr sei Thimm eingezogen worden, sagt die Ortschronik. Eine Anfrage im Bundesarchiv, das die Dokumente der einstigen Wehrmachtsauskunftsstelle verwaltet, ergibt dagegen, Thimm habe den schwarzen Rock erst 1940 gegen einen feldgrauen getauscht. Eine Karteikarte nennt als letzten Dienstgrad: Oberleutnant. Er muss also militärisch vorgebildet gewesen sein. Eine leichte Verwundung ist dokumentiert und das Todesdatum: 17. 9. 41. Thimm, so liest man, fiel im »Stadtwald südl. Kiew«. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge vermutet, dass der Pastor »als unbekannter Soldat« in »die Kriegsgräberstätte Kiew-Sammelfriedhof« überführt wurde.
Wie dürftig ist das, was von diesem Leben blieb! Vermutungen ersetzen keine Tatsachen. Zwei Tage nachdem der Pfarrer gefallen war, fiel Kiew. Die Chefs der Heeresgruppe Süd, zu der Thimms Infanterieregiment 202 gehörte, einigten sich willig mit der SS. Die ermordete Ende September an nur zwei Tagen 33 771 Juden in der Schlucht von Babi Jar um. Deren Kleidung wurde auf 137 Lkw verladen und daheim der NS-Volkswohlfahrt übergeben.
Davon konnte Thimm nichts wissen. Doch vielleicht erfuhr er vom Massaker bei Belaja Zerkow. Dort stimmte die Wehrmacht bereits im August der Ermordung von jüdischen Kindern im Alter von einem bis sieben Jahren durch die Einsatzgruppe C zu. Die Mordstätte liegt wie Thimms Todesort südlich vor Kiew. Wahrscheinlich dürfte aber sein, dass Thimm als Heeresoffizier in Hitlers »Barbarossa«-Vernichtungskrieg den Kommissarbefehl zur Ermordung der politischen Funktionäre in der Roten Armee ebenso kannte wie die allgemeinen und nicht minder verbrecherischen »Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Russland«.
Ein Kommandant namens Gagarin
Auch wenn damals allerlei Militär auf Rügen stationiert war, schien es eine friedliche Insel im Krieg zu sein. Den Eindruck mag der Leiter des Stadtarchivs von Sassnitz, Frank Biederstaedt, nicht bestätigen. Zwar zogen die alliierten Bomberströme über Rügen hinweg, doch seien die Zwangsarbeiter ja nicht einfach so, quasi im Austausch mit Todesnachrichten von der Front, auf die Insel gekommen. Allein in Wiek, so lässt sich herausfinden, gab es rund 700 solcher Sklaven.
Biederstaedt kann Geschichten erzählen. Wer weiß schon, dass Deutschland und die Westallliierten über die - gerade vor wenigen Tagen endgültig eingestellte - deutsch-schwedische Fährlinie Sassnitz-Trelleborg Gefangene austauschten? Kaum mehr weiß man über die Qualen zahlreicher Flüchtlinge, die vor der nahenden Front auf Rügen strandeten. Gewiss, man erinnert regelmäßig vor Massengräbern an den verheerenden Angriff britischer Piloten im März 1945 auf Sassnitz. Doch dass danach mutige Frauen mit ihren Kindern zum Stab des Inselkommandanten zogen und die kampflose Übergabe der Insel verlangten, ist kaum bekannt.
Gleiches gilt für die Schicksale von oft namenlosen Männern, die sich den Nazis verweigerten und von fanatischen »Endsiegern« erschossen wurden. Gruppen von Hitlerjungen, die man als »Panzerjäger« verheizen wollte, aber auch allerlei Nazi-Potentaten setzten sich mit Kähnen Richtung Dänemark oder Schleswig-Holstein ab, wo die Wehrmacht noch ungeschoren Stellung hielt.
Dorthin zog es auch den Gauleiter von Pommern und Reichsverteidigungskommissar Franz Schwede-Coburg, der sich mit seinem Stab auf Rügen eingenistet hatte. Von dort schilderte er Hitlers Nachfolger, Admiral Karl Dönitz, die schiere Unmöglichkeit, die Insel zu halten. Er forderte »eine klare Weisung, was unter diesen Umständen zu geschehen hat«. Die kam dann vom sowjetischen Generalmajor Nikolai Ljaschtschenko, dessen Truppen bereits das Festland beherrschten.
Es gibt widersprüchliche Berichte über die letztlich kampflose Übergabe von Rügen. Zu DDR-Zeiten betonte man vor allem Respekt vor einem Oberleutnant namens Hans-Jürgen Meyer, der Verhandlungen führte. Tatsache ist: In Wiek trafen die ersten Rotarmisten am 5. Mai ein, morgens gegen 3 Uhr. Am Ende des Jahres 1945, so schreibt Ortschronist Käning, »hätte die Bilanz weitaus schlimmer ausfallen können, wenn sich die Rote Armee für das gerächt hätte, was die Deutschen in der Ukraine und in Russland bei ihrem Einmarsch angerichtet hatten«.
Einen maßgeblichen Beitrag zu dieser gnadenvollen Bilanz leistete der in Wiek bis zum Oktober 1945 als Kommandant eingesetzte Major Gagarin. Der Name lässt aufhorchen. Leider ist nicht bekannt, ob der Offizier etwas mit dem ersten Weltraumflieger Juri Gagarin zu tun hat. Nachforschungen zum Lebenslauf wären spannend. Vielleicht sogar ein Anliegen der Kirche?
Nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 soll Gagarin alle Wieker auf dem Schulhof versammelt und eine Ansprache gehalten haben. Die Frauen durften danach heim, bei den männlichen Einwohnern sortierte man die zu jungen und die zu alten sowie Behinderte aus. Die anderen mussten zum Rügendamm marschieren. Doch der war gesprengt - was Leid verhindern half, denn man entließ die zur Deportation Bestimmten nach Hause. Auch von Übergriffen vor allem auf Frauen ist zu berichten. Einwohner von Nonnevitz, ein paar Fahrradminuten von Wiek entfernt, baten den damaligen Pfarrer Holtz um Hilfe. Dem fiel nur ein, wie man sich im Dreißigjährigen Krieg vor Marodeuren schützte. Fortan bliesen die Nonnevitzer ein Flügelhorn, wenn sich betrunkene Rotarmisten näherten.
Und Gagarin? Der machte seinen Leuten auch mit Härte klar, dass im besetzten Deutschland Recht und Gesetz gelten. Zugleich sorgte er dafür, dass sich die Kirche wieder füllte. Die Menschen mieden sie, weil sie nicht zuletzt dank der Nazi-Propaganda fürchteten, die gottlosen Kommunisten würden alle Gläubigen verhaften. Was tat Gagarin? Er befahl zu Pfingsten 1945 alle Einwohner in die Kirche. Ob den Wiekern der Heilige Geist erschien, ist nicht überliefert. Wohl aber, dass Kommandant Gagarin in der ersten Reihe saß.
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