»Das Fahrrad hat mir die Angst genommen«
Anny Vera Lozada liebt das Radfahren und gründete 2018 in der kolumbianischen Metropole Cali einen kleinen Kurierdienst. Corona hat das Geschäft angekurbelt
In der tropischen Metropole Cali zeigt das Thermometer 34 Grad Celsius an. Der Asphalt brennt, der Schweiß läuft den Rücken herunter. Anny Vera Lozada kommt mit dem Rad den Berg hinauf. Das Interview findet vor der Tür statt, mit Sicherheitsabstand.
Hallo, Frau Lozada, vielen Dank, dass wir uns trotz Corona-Ausgangssperre für das Interview treffen können. Sie müssen jetzt viele Aufträge haben …
Das stimmt, wir kommen kaum hinterher. Das Rad ist gefragter denn je.
Kolumbien hat seit Ende März eine sehr umfassende und restriktive Ausgangssperre. Sie gehören zu den wenigen, die sich weiterhin in der ganzen Stadt bewegen. Wie nehmen Sie die Stadt wahr?
Viele Menschen halten sich nicht an die Maßnahmen. Zum einen gibt es in manchen Vierteln lange Schlangen vor den Supermärkten - es ist fast unmöglich geworden, noch Seife oder Alkohol zu bekommen; viele Sachen werden nicht geliefert, es gibt Beschränkungen beim Einkaufen. Aber zum anderen sehe ich viele Menschen auf der Straße, die sich aus Not nicht an die Anweisungen halten können. Sie leben von informeller Arbeit, haben keine Schutzmittel wie Mundschutz. Ein Zuhause zu haben, ist ein Privileg. In wieder anderen Vierteln sind die Straßen vollkommen menschenleer, das ist auch unheimlich. Erst dachte ich: Toll, keine Autos, weniger Verkehr und Abgase. Aber jetzt fühle ich mich in den verlassenen Straßen ein bisschen unsicher. Wer hilft mir, wenn mir dort etwas passiert?
Und wie werden Kuriere in der Krise wahrgenommen?
Das Dekret der Ausgangssperre schließt uns aus, wir dürfen uns frei bewegen. Da zahlt sich die ganze Professionalisierung aus, denn wir haben jede und jeder ein Zertifikat und damit eine Genehmigung von der Stadtverwaltung. Unsere Arbeit wird positiv gesehen. Wir tragen in diesem Moment dazu bei, dass die Dienstleistungen in der Stadt weiterlaufen. Zudem arbeiten wir seit dem Ausbruch des Virus mit Stiftungen zusammen und bringen den ärmsten Leuten Lebensmittel. Alle Transporte für soziale Hilfsleistungen machen wir gratis, das ist unser Beitrag. Wir empfinden uns als Aktivisten, haben eine Waffe gegen die Ungerechtigkeit. Und gleichzeitig haben wir mit unserem Fahrrad ein Privileg und damit eine Verantwortung. Trotz aller erwähnten Gefahren sind wir weniger gefährdet, uns anzustecken.
Auch in Deutschland wird das Rad als Verkehrsmittel empfohlen, um die Ansteckungsgefahr zu verringern. Verbessert Corona die Akzeptanz von Fahrrädern?
Das Rad ist sicherer als Bus oder Taxi, wenn man sich nicht anstecken will. Wir haben im Team viel über Hygiene nachgedacht und unser Verhalten angepasst. Die Arbeitsorganisierung beruht normalerweise viel auf direktem Kontakt: Wir gehen nach Feierabend zusammen aus, reden beim Bier über den Tag und die kommenden Aufgaben, verteilen Fahrten und besprechen unsere Sorgen. Im Moment treffen wir uns nicht physisch. Für das Team und jede Einzelne ist das neu und ungewohnt.
Was bedeutet das Rad für Sie?
Es klingt vielleicht ein bisschen verrückt, aber seit ein paar Jahren dreht sich mein Leben nur noch um Fahrräder. Es ist mein Transportmittel, mein Arbeitswerkzeug, mein Sportgerät; das Rad sichert meine Mobilität und meine Teilnahme bei Wettkämpfen. Ich bin mit dem Rad oft gereist und habe unglaublich viele tolle Menschen kennengelernt. Über das Rad habe ich angefangen, mich in der Stadt und der Politik einzumischen. Ich habe zuerst Cali, meine Geburtsstadt, und später viele Orte der Welt auf dem Sattel erkundet.
Welche Orte zum Beispiel?
In Riga in Lettland habe ich 2018 bei den Cycle Messenger World Championships teilgenommen. Danach bin ich noch drei Monate durch die Straßen von Europa geradelt, vor allem Berlin hat mich tief beeindruckt. Letztes Jahr habe ich wieder bei dem Wettbewerb mitgemacht, dieses Mal in Indonesien. Ohne das Rad wäre das niemals möglich gewesen. Ich hätte mir nie im Leben vorgestellt, dass ich jemals an solche Orte kommen würde. Diese Kuriermeisterschaften sind von unten organisiert. Das bedeutet auch, dass wir als Messenger solche Events vorbereiten und uns koordinieren. Dieses Jahr soll die Weltmeisterschaft in Bogotá stattfinden, und anschließend planen wir noch ein Rennen in Cali. Neben dem Sport ist das also auch ein wichtiges Element der Selbstorganisation.
Wie kamen Sie zu dem Job als Fahrradkurierin?
Als ich das erste Fahrrad hatte, wurde ich von meinem Vater durch die Stadt geschickt, um für seine kleine Telefonfirma Papierkram und Verträge zu Kunden zu bringen. Dann haben mich Bekannte angerufen, wenn sie etwas sicher und schnell transportieren mussten. Irgendwann habe ich Freundinnen einbezogen, da es eine gute Chance war, etwas Geld zu verdienen. Hier in Kolumbien war das vollkommen neu. Ich habe dann in Berlin Kontakte zu Kurierfahrern bekommen und gelernt, wie die sich organisieren. 2018 hab ich mich getraut, eine kleine eigene Firma zu gründen: BikeExpressCali. Mittlerweile sind wir sechs Personen, kommen aber mit den Aufträgen trotzdem kaum hinterher.
Und warum ist das eine harte Angelegenheit?
Die Leute verbinden das Fahrrad mit Armut. Hier in Cali fahren im Alltag nur Menschen Rad, die kein Geld für ein Motorrad oder ein Auto haben, also die Unterschicht, der man eher wenig Vertrauen entgegenbringt. Dass wir freiwillig Rad fahren, das war vollkommen neu. Wir kämpfen bis heute gegen Vorurteile, geben uns Mühe, das Fahrrad in der Stadt als alternatives Transportmittel zu fördern. Das hat sicherlich auch etwas mit unserem Stil zu tun: Wir sind eine Gruppe junger Leute, sind supernett und freundlich, fahren mit bunten Fahrradklamotten. Das alles, um die Menschen in Cali davon zu überzeugen, dass man sich mit dem Rad schnell und sicher, aber auch verantwortungsbewusst bewegen kann.
Welche weiteren Probleme gibt es bei Ihrem Job?
Unser Hauptproblem ist die Sicherheit. Cali ist generell eine unsichere Stadt. Es gibt viele Raubüberfälle und Diebstähle, aber auch Verkehrsunfälle und Straßenschäden, also Schlaglöcher, offene Gullideckel; und bei Regen fallen auch mal Äste oder ganze Bäume oder Palmen auf die Straße. Ein weiteres Problem war vor allem zu Beginn die Bezahlung. Leute wollten nicht viel zahlen, weil sie die Motorradtaxis gewohnt waren. In Cali fahren davon Tausende - diese Dienstleistung ist allerdings viel zu billig, und die Preise werden dadurch gedrückt.
Macht es einen Unterschied, ob eine Frau oder ein Mann in diesem Job arbeitet?
Ja, absolut. Überall auf der Welt ist es eine Herausforderung, eine Frau zu sein. In Kolumbien ist Frau und Fahrradkurierin zu sein eine doppelte Herausforderung. Wir sehen uns im Alltag immer wieder dummen Kommentaren auf der Straße ausgesetzt, aber auch Bedrohungen. Wenn männliche Kollegen sich Sorgen machen, weil ihnen das Rad, das Handy oder der Rucksack geklaut werden kann, kommt für uns Frauen immer noch die Angst um uns selber hinzu. Das Rad hat mir geholfen, diese Ängste zu überwinden. Ich habe gelernt, in meine eigene Kraft zu vertrauen; meine Beine bringen mich schnell von einem Ort zum anderen. Ich habe gelernt, mich auf der Straße anzupassen, gucke mich ständig um, kann Situationen lesen und bewerten.
Gibt es Vorurteile gegen Frauen in Ihrem Job?
In Kolumbien erziehen die Familien uns Mädchen immer noch viel mit Angst. Wenn jemand hört, dass ich Rad fahre, fragen sie manchmal ungläubig: »Du fährst vom Norden der Stadt bis in den Süden?« Und ich versuche dann, die Leute zu überzeugen, dass auch eine Frau das kann. Es gab eine Anny vor dem Rad, und es gibt jetzt eine Anny mit dem Rad, die ich heute bin. Die hat viel weniger Angst und traut sich, für ihre Ideen einzustehen. Ich würde mich sehr freuen, wenn viele weitere Frauen diese Erfahrung machen könnten.
Und wie geht es weiter?
Wir müssen uns auch weiterhin vernetzen und austauschen. Ich lerne gerade ein paar Worte Deutsch. Wir müssen solidarisch mit der Krise umgehen. Das Rad kann uns dabei weltweit verbinden.
Interview: Ani Dießelmann
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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