- Politik
- Sowjetische Kriegsgräber
Kein Schild, kein Pfeil
Auf der Suche nach sowjetischen Kriegsgräbern in Deutschland
Entschuldigung«, sagt die grauhaarige Frau, und die Abendsonne funkelt in ihren Brillengläsern. Ich erkenne sie wieder. Vor ein paar Minuten erst fragte ich sie, wo sich hier der sowjetische Friedhof befinde. Das Navigationsgerät meines Fahrzeugs war nicht auskunftsfähig. Sie wies mir den Weg: ein paar Hundert Meter und zweimal abbiegen. Auch hier der nahezu in allen Bundesländern anzutreffende Missstand: kein Schild, keine Tafel, kein Pfeil, der die Richtung zum Ehrenhain weist. Ich traf auf meiner Tour bisher höchstens mal auf ein braunes Zeichen mit der Aufschrift »Kriegsgräberstätte«. Dort lagen allerdings oft Soldaten anderer Nationen, keine gefallenen Rotarmisten, nach deren Spuren ich suchte.
An über 4000 Orten in Deutschland sind einstige Sowjetbürger bestattet: gefallene Soldaten, Kriegsgefangene, Zwangsdeportierte und deren Kinder. Es gibt auch Friedhöfe im Osten, auf denen Militärs ihre letzte Ruhestätte fanden, die in der DDR gedient hatten - und deren Familienangehörige. Wie Katja K., deren Grabstein ich auf dem Magdeburger Westfriedhof zwischen mit Moos überzogenen Platten entdeckte: verstorben am 12. Mai 1989, gerade mal ein Jahr alt.
Mich interessierten jedoch vornehmlich die Friedhöfe und Gedenkorte für jene Soldaten, die Opfer des deutsch-faschistischen Terrorstaates geworden waren. Grabsteine, Massengräber, Obeliske, Denkmale der Befreiung. Die Bundesregierung hatte sich im Prozess der deutschen Vereinigung zu deren Bewahrung verpflichtet. Zum Zwei-plus-Vier-Vertrag, der Vereinbarung der beiden deutschen Staaten und der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich, vom September 1990 gehört ein Gemeinsamer Brief der beiden deutschen Außenminister an die vier Kollegen der einstigen Anti-Hitler-Koalition. Darin versicherten sie: »Die auf deutschem Boden errichteten Denkmäler, die den Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft gewidmet sind, werden geachtet und stehen unter dem Schutz deutscher Gesetze. Das Gleiche gilt für die Kriegsgräber, sie werden erhalten und gepflegt.« Ohne dieses Bekenntnis hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben. Steht die Bundesrepublik zu dem vor 30 Jahren gegebenen Wort? Es wäre nicht das Einzige, was gebrochen wurde. Denken wir nur an die Osterweiterung der NATO.
Fälle wie jener in Sandbostel waren mir allerdings nicht zu Ohren gekommen. Dort, auf halbem Wege zwischen Hamburg und Bremen, war im Sommer 1939 - also noch vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges - ein Internierungslager für Kriegsgefangene eingerichtet worden. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion zwei Jahre darauf wurden hier Zehntausende Rotarmisten eingepfercht. Man ließ sie, wie in anderen Lagern, verhungern, verdursten oder sich zu Tode schuften. Nicht wenige wurden willkürlich erschossen, ebenfalls wie anderorts. 4000 Rotarmisten wurden allein am Schießstand der SS in Hebertshausen bei Dachau niedergemäht. Einsatzkommandos der Gestapo hatten sie in den Lagern der Wehrkreise München, Nürnberg, Stuttgart, Wiesbaden und Salzburg nach ideologischen und rassistischen Kriterien »ausgesondert«: Kommissare, Juden und Angehörige der Intelligenz. Heute wissen wir: Nächst den Juden waren die sowjetischen Kriegsgefangenen die zahlenmäßig stärkste Opfergruppe des deutschen Faschismus. Das wird gern verdrängt. Die Gedenkstätte in Hebertshausen gibt es erst seit 2014.
Doch zurück zu den in Sandbostel ermordeten »Russen«. Die SS verscharrte sie in Massengräbern neben dem Lager. 1945 wurde dort auf Initiative der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) ein sieben Meter hohes Mahnmal errichtet. Auf einer daran angebrachten Tafel war in Russisch, Englisch und Deutsch zu lesen: »Hier ruhen 46 000 russische Soldaten und Offiziere. Zu Tode gequält in der Nazigefangenschaft.« 1956 ließ die Landesregierung von Niedersachsen das Denkmal sprengen. Die Begründung: Die Zahl der Opfer sei falsch. Kalte deutsche Gründlichkeit und Genauigkeit eben. Mit Antikommunismus hatte das überhaupt nichts zu tun?
Dergleichen despektierliches, unverschämtes Vorgehen ist nach dem Abzug der Soldaten und Offiziere der sowjetischen Streitkräfte aus Ostdeutschland in den 90er Jahren nicht publik geworden, das hätte die Öffentlichkeit diesmal wohl auch nicht durchgehen lassen. Provokationen à la »Bild« und »B.Z.« aus dem Hause Springer liefen ins Leere. Die beiden Boulevardzeitungen hatten am 14. April 2014 gefordert: »Weg mit den Russenpanzern am Tor«. Damit waren die beiden T 34 am Ehrenmal im Berliner Tiergarten gemeint. Die Schmierblätter druckten eine Vorlage, die ihre Leser ausfüllen und an den Petitionsausschuss des Bundestages senden sollten. »Der Bundestag möge beschließen: Die russischen Panzer am Ehrenmal im Berliner Tiergarten sollen entfernt werden. Begründung: In einer Zeit, in der russische Panzer das freie, demokratische Europa bedrohen, wollen wir keine Russen-Panzer am Brandenburger Tor!«
Allerdings brauchte es hierzulande einige Zeit, ehe sich ins kollektive Bewusstsein die Erkenntnis grub, dass wir für den Zustand solcher Erinnerungsorte Verantwortung tragen: Verwaltungen wie Vereine, Parteien und Privatpersonen. So findet sich im Süden des Landes Brandenburg, in der Kleinstadt Elsterwerda, ein gepflegter Ehrenfriedhof, auf dem seit 2017 in zwei Sprachen geschrieben steht: »In Zusammenarbeit zwischen der Botschaft der Russischen Föderation in Deutschland, dem Ministerium des Innern und für Kommunales, dem Landkreis Elbe-Elster, der Brandenburgischen Freundschaftsgesellschaft und der Stadtverwaltung Elsterwerda konnten durch umfangreiche und gesicherte Nachforschungen nunmehr 2915 hier Bestattete in den Namenlisten dokumentiert werden.« An diesem Ort waren ab Herbst 1945 an die 3000 gefallene Rotarmisten, Kriegsgefangene aus dem Lager Mühlberg sowie Zwangsarbeiter bestattet worden, die man in 72 Massen- und 42 Einzelgräbern entdeckt hatte. Deren Namen waren bis dahin mehrheitlich unbekannt gewesen. Nun nicht mehr.
Im heutigen Bundesland Brandenburg fanden die opferreichsten Schlachten auf deutschem Boden statt, in nahezu jeder Gemeinde erinnert ein Stein, eine Grabstätte oder ein Ehrenfriedhof an das blutige Frühjahr 1945. Die Anlagen sind alle in sehr gutem Zustand - wie die meisten in der Republik. Was erfreulich ist. Gäbe es einen Wettbewerb unter den Bundesländern in würdevoller Ehrung und Erinnerung an die Befreier aus dem Osten, setzte ich dennoch Brandenburg und Berlin an die Spitze. In Lebus, an den Hängen der Oder, werden noch heute Kriegstote zur letzten Ruhe gebettet. Noch immer findet man die sterblichen Überreste toter Sowjetsoldaten in Brandenburg. Den jüngst dort Beigesetzten hat man im Garten eines bekannten Fernsehmoderators in Potsdam, am Heiligensee, gefunden.
Dass der Zustand der Brandenburger Anlagen hervorzuheben ist, hängt zum einen gewiss mit den Menschen vor Ort und lokalen Behörden zusammen, die ein großes Gespür für Geschichte und die aus deutscher Schuld erwachsene Verpflichtung haben. Zum anderen wohl aber auch mit der Haltung der jeweiligen Ministerpräsidenten des Landes. Für Manfred Stolpe war die Pflege der Denkmäler und Gräber Chefsache. Er reiste nicht nur demonstrativ nach Cottbus, als Neonazis auf dem dortigen Südfriedhof wiederholt Hakenkreuze und Davidsterne auf die sowjetischen Grabsteine geschmiert hatten. Stolpes Nachfolger handelten nicht minder konsequent und verantwortungsvoll.
»Warum bitten Sie mich um Entschuldigung?«, frage ich die Dame, die mir den Weg zum Magdeburger Nordpark wies. Weil sie wissen wolle, weshalb ein Fremder hierherkomme. Sie sei doch auch hier, sage ich. Naja, sie lebe halt in der Nähe. Dort drüben sei der Kindergarten, den sie besuchte, und da, noch immer, die Schule, von der die Schüler beobachtet hatten, wie die Soldaten der sowjetischen Garnison mit Blasmusik einen Toten im offenen Sarg bis zur Grube getragen und dann von ihm Abschied genommen hätten. Mit Küssen. Sie schüttelt, scheinbar noch immer verwundert, das Haupt. Andere Völker, andere Sitten eben. Bis in die 60er Jahre hinein wurde hier bestattet.
Eigentlich sei es pietätlos gewesen, als sie neugierig die Nasen gereckt hätten, meint sie. »Sie waren Kinder, damals«, sage ich. Sie nickt. »Erst später begriffen wir, dass wir den Russen Dank schulden. Finden Sie nicht auch, dass dieser Ort am Rande des Lenné-Parks angemessen und eine Augenweide ist?« Natürlich. Auch wenn ich nicht weiß, wie hoch der Beitrag der Bundesregierung an der Rekonstruktion der Anlage vor 15 Jahren war. Ob sie überhaupt daran beteiligt war. Oder nur die Einwohner. Später erfahre ich: Ein Drittel der Aufwendungen trug der Bund, zwei Drittel übernahm Magdeburg.
Der Zustand der Mahnmale der Vergangenheit ist jedenfalls erheblich besser als die gegenwärtigen politischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Russland. Vielleicht weil es an der Basis weniger ideologisch, sondern vernünftig zugeht. Auch jeder tote Russe hatte eine Familie, die um den Vater, den Bruder oder Sohn trauerte, der in fremder Erde ruht. Ein nicht geringer Teil der 27 Millionen Sowjetbürger, die die Befreiung des Kontinents mit ihrem Leben bezahlten, liegt in deutschen Gräbern. Das sollten wir nie vergessen.
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