Nicht nur der »Wanderzirkus« steht zur Debatte
Konferenz zur Zukunft Europas wirft ihren Schatten voraus und stellt Doppelsitz des EU-Parlaments infrage
Die Debatten bei der Konferenz zur Zukunft Europas sollen ergebnisoffen geführt werden - das werden die drei Kerninstitutionen der EU nicht müde zu betonen. Natürlich gibt es dennoch Ideen, was am Ende dabei rauskommen könnte. Das EU-Parlament nannte einen Punkt in seiner Entschließung zur Ausgestaltung der Konferenz explizit: »Die Arbeiten zu Themen wie dem Spitzenkandidaten-System und länderübergreifenden Listen (sollten) im Verlauf der Konferenz berücksichtigt werden.«
Das Thema Spitzenkandidaten ist eine offene Wunde der Volksvertretung. Seit Jahren drängen die Abgeordneten auf ein stärkeres Mitspracherecht bei der Ernennung des EU-Kommissionspräsidenten. Der EU-Vertrag von Lissabon brachte 2009 eine minimale Änderung: Demnach schlägt der Rat der Mitgliedstaaten nach wie vor den oder die Kommissionschef/in vor, aber »dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament«. Die Volksvertretung leitete aus diesem Halbsatz das Spitzenkandidatensystem ab.
Der Luxemburger Jean-Claude Juncker war bei der EU-Wahl 2014 Kandidat der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), gewann die Wahl und wurde daraufhin von den Mitgliedstaaten zum Kommissionspräsidenten erkoren. 2019 gewannen erneut die Konservativen. EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) scheiterte aber unter anderem am Widerstand von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Die Staats- und Regierungschefs zauberten schließlich die damalige Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen aus dem Hut. Nach einer Charme-Offensive der CDU-Politikerin und um nicht als Blockierer dazustehen, stimmte das EU-Parlament zähneknirschend und mit hauchdünner Mehrheit zu. Das Spitzenkandidatensystem war gescheitert.
Macron hatte seinen Widerstand gegen Weber vordergründig mit dem Fehlen länderübergreifender Wahllisten gerechtfertigt: Ein Spitzenkandidat habe keine Legitimation, wenn er nur in einem der 27 Mitgliedstaaten gewählt wurde. Die Einführung einer transnationalen Liste hatte im Zuge der Neustrukturierung des EU-Parlaments nach dem EU-Austritt Großbritanniens auf dem Tisch gelegen, war aber ironischerweise am Widerstand der EVP gescheitert.
Ohnehin kann von »einer« Europawahl eigentlich nicht die Rede sein: In den meisten Ländern wird sonntags gewählt, in den Niederlanden etwa aber schon am Donnerstag. In Belgien, Luxemburg, Griechenland und Zypern herrscht Wahlpflicht, in Österreich und Malta darf bereits ab 16 Jahre gewählt werden und bei der Verteilung der Sitze kommt ein halbes Dutzend verschiedener mathematischer Systeme zum Einsatz. De facto bestimmt jedes Land in einer eigenen Wahl seine EU-Abgeordneten. Parlamentspräsident David Sassoli schlug deshalb ein europäisches Wahlrecht vor.
Die EU-Volksvertretung hätten darüber hinaus gerne das Recht, selbst Gesetze vorzuschlagen. Gemäß den europäischen Verträgen, »darf ein Gesetzgebungsakt der Union nur auf Vorschlag der Kommission erlassen werden«. Von der Leyen hatte den Parlamentariern im Werben um ihre Gunst zumindest ein indirektes Initiativrecht versprochen: Mehrheitlich vom Parlament beschlossene Vorschläge werde ihre Kommission auf jeden Fall »aufgreifen«, versicherte sie. Recht schnell nach ihrer Wahl war dann aber nur noch von »erörtern« die Rede. Das Parlament hofft nun auf die Konferenz zur Zukunft Europas, um das Initiativrecht vertraglich zu verankern.
Auch die Entscheidungsfindung im Rat der Mitgliedstaaten taucht in der Debatte über nötige Vertragsänderungen immer wieder auf. In einer Reihe von Bereichen ist die Einstimmigkeit der 27 Mitgliedstaaten für Beschlüsse nötig, etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik, bei der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten oder in Steuerfragen. Einzelne Mitgliedstaaten können Entscheidungen so per Veto blockieren. Die EU-Kommission verfolgt derzeit einen kleinteiligen Ansatz und hat Initiativen für Mehrheitsentscheide in Teilbereichen vorgelegt. Zum Beispiel sollen steuerpolitische Entscheidungen im Energie-Bereich oder Erklärungen zu Demokratie und Menschenrechten in Drittstaaten mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden können.
Auch die leidige Debatte über den Doppelsitz des EU-Parlaments könnte in die Diskussionen der Konferenz zur Zukunft Europas Eingang finden. Dass die rund 700 Abgeordneten sowie Tausende Assistenten, Parlamentsangestellte, Lobbyisten und Medienvertreter regelmäßig zwischen Straßburg und Brüssel pendeln, ist aus finanzieller und ökologischer Sicht kaum vermittelbar. Um den »Wanderzirkus« zu beenden, müssten ebenfalls die EU-Verträge geändert werden.
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