Mehr Frauen = weniger Gehalt

IN SCHLECHTER GESELLSCHAFT: Die Wertschätzung der Arbeit hängt mit davon ab, wer die Arbeit leistet, meint Sibel Schick. Das zeigt sich auch auf der Lohnabrechnung.

  • Sibel Schick
  • Lesedauer: 4 Min.

Ich war vielleicht neun, als ich meiner Mutter eine Tafel Schokolade zum Muttertag schenkte, um die am nächsten Tag selber aufzuessen. Ich dachte, einen Anspruch auf diese Schokolade zu haben, weil sie für meine Mutter war und ich als Kind wichtiger sei als sie. Das fasst die Situation gut zusammen.

Wie jede Krise macht auch Corona die Probleme in der Gesellschaft sichtbarer und gravierender. 2020 gab es als Dank zum Muttertag wieder nur Lippenbekenntnisse. So gratulierte das Familien-, Senioren-, Frauen- & Jugendministerium Müttern lediglich mit einem Bild auf Social Media, auf dem eine glückliche Mutter mit Kind in einer lichtdurchfluteten, großen Wohnung zu sehen war. Mit »Danke« und »alles Gute« statt konkreten Hilfsmaßnahmen.

Sibel Schick
Sibel Schick ist Autorin und Journalistin. Sie wurde 1985 in der Türkei geboren und zog 2009 nach Deutschland. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »In schlechter Gesellschaft«.

Über vier Millionen Familien sind von Kita- und Schulschließungen betroffen, die Wiederöffnungen erfordern intensive Planung. Vor allem für Mütter ist das eine Herausforderung, denn sie verbringen in allen denkbaren heterosexuellen Beziehungskonstellationen viel mehr Zeit mit Kindern als ihre Partner. Das macht eine Vereinbarkeit mit dem Beruf fast unmöglich. Alleinerziehende haben es meist noch schwerer. Als Lösung schlägt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung das Corona-Elterngeld, für das auch eine Kampagne läuft, vor.

Das Corona-Elterngeld soll sich am Gehalt der Eltern orientieren. Das findet die Aktivistin Anne Isakowitsch nicht inklusiv: »Wir sehen es nicht ein, dass wohlhabende Familien mehr Geld bekommen als Familien mit geringerem Gehalt,« sagt sie im Gespräch. Mit der Initiative »Kitakrise Berlin« fordert Isakowitsch ein Corona-Kindergeld, bei dem alle Familien die gleiche Summe erhalten sollen.

Forderungen für Lösungen werden also lauter, diesen folgen aber keine politischen Maßnahmen. Woran liegt das?

Wie viel unbezahlte Fürsorge-, Pflege- und Betreuungsarbeit in eigenen vier Wänden geleistet wird, bleibt unsichtbar. Das liegt unter anderem daran, dass jene, die diese Arbeit leisten, nicht denselben gesellschaftlichen Stellenwert genießen wie cis Männer. Cis Männer sind jene Männer, die bereits bei der Geburt als männlich eingeordnet wurden. Sollten mehr cis Männer Fürsorgearbeit leisten, würde sich die Wertschätzung anpassen. Die Reproduktions- und Fürsorgearbeit wird abgewertet, weil es »Frauenarbeit« ist. Wenn cis Männer Applaus für ihre Leistungen daheim bekommen, liegt das an dieser Beziehung. Ein Mann, der staubsaugen kann: Bravo, 100.000 Retweets. Ein Papa in Elternzeit: Hier, ein Kolumnenplatz!

Das Problem der geringen Wertschätzung für die Fürsorgearbeit ist Ursprung der Pflegekrise. Pflegeverbände können ihre Interessen nicht durchsetzen, weil ihre Arbeit feminin kodiert ist, das heißt als »Frauenarbeit« angesehen und abgewertet wird. Nur in einer Pandemie fürs Medizinpersonal zu klatschen, ist genauso wie Müttern am Muttertag zu danken und an 364 Tagen nichts für ihr Wohlbefinden zu machen.

Sobald die Krise vorbei ist, wird das Klatschen aufhören. Pflegekräfte werden weiter unterbesetzt am Limit arbeiten. Denn in einer Leistungsgesellschaft zählt, welches Auto du fährst, aber nicht, wie viele Menschen du pflegst und rettest. Deshalb wird gerade mehr über die Autoindustrie diskutiert als über die Krise daheim oder in der Pflege. Menschen sind sich zu schade, in die Pflege zu gehen und dort »Frauenarbeit« zu machen. Diese Verachtung geht so weit, dass sie lieber andere ausbeuten - zum Beispiel 24-Stunden-Kräfte aus Polen, die als Haushaltshilfe eingestellt und als Pflegerin missbraucht werden.

Die Wertschätzung der Arbeit hängt mit davon ab, wer die Arbeit leistet. Studien belegen, dass Löhne sinken, sobald der Frauenanteil über 60 Prozent steigt. Mehr Frauen bedeutet weniger Gehalt - egal, um welche Arbeit es geht. Umgekehrt steigen die Löhne, wenn eine sogenannte Frauenbranche von Männern übernommen wird (zum Beispiel Informatik).

Es dauert, eine Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Aber wir brauchen schnelle Lösungen: Geld für die Eltern für ihre Fürsorge und Betreuung und gerechte Bezahlung für Erziehung und Pflege, die an Verantwortung und Belastung angepasst ist. Bis aus Lippenbekenntnissen politische Maßnahmen werden, spart euch lieber den Applaus und das Dankeschön.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!