Geteilte Gefahreneinschätzung

Ärztegewerkschaft fordert grundlegende Änderungen der Gesundheitsfinanzierung

  • Rainer Balcerowiak
  • Lesedauer: 3 Min.

In vielen Bereichen der Gesundheitsvorsorge gibt es im Zuge der Corona-Krise nach wie vor erhebliche Defizite beim Schutz der Beschäftigten, die aufgrund ihrer Tätigkeit einem besonderen Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Auch Arbeitsbelastung und -organisation führen in einigen Bereichen zu hohem Stress bei ärztlichem und pflegerischen Personal.

Das ist das Ergebnis einer Ad-hoc-Mitgliederumfrage der Ärztegewerkschaft Marburger Bund (MB), an der sich zwischen dem 29. April und dem 10. Mai fast 9000 Ärztinnen und Ärzte beteiligt haben. »Wir bewerten die Ergebnisse der Umfrage als weitgehend repräsentativ«, sagte die MB-Vorsitzende Susanne Johna am Mittwoch auf einer Videopressekonferenz. Die Verteilung der Teilnehmenden auf Arbeitsbereiche, verschiedene Träger, die Art der Beschäftigungsverhältnisse und der Alterskohorten entspreche weitgehend der Verteilung in der Gesamtmitgliedschaft des MB.

Die Disparitäten in der Arbeitsbelastung und -organisation haben teilweise absurde Formen angenommen. In den Krankenhäusern wurden planbare Operationen verschoben und zusätzliche Intensivkapazitäten geschaffen. Insgesamt ist aber die Zahl der behandelten Patienten deutlich gesunken. Rund 57 Prozent der Befragten meldeten eine sinkende Arbeitsbelastung bis hin zu verschiedenen Formen der Kurzarbeit, etwa in Rehakliniken. Rund die Hälfte der Befragten konnte dadurch aufgelaufene Überstunden abbauen, was viele Teilnehmer als sehr entlastend bewerteten.

Bei 17 Prozent ist die Arbeitsbelastung dagegen deutlich gestiegen, vor allem im intensivmedizinischen Bereich, wo auch geltende Arbeits- und Ruhezeitregelungen außer Kraft gesetzt wurden. Johna nannte es »befremdlich«, dass einerseits Kollegen im Ruhestand gezielt für die Unterstützung in Corona-Hotspots angeworben werden, um den befürchteten Ansturm der Covid-19-Patienten zu bewältigen, und andererseits ganze Versorgungsbereiche weitgehend brachliegen. 69 Prozent der Befragten fordern einen behutsamen Wiedereinstieg in die Regelversorgung, wie beispielsweise planbare Operationen und vor allem Reha-Maßnahmen.

Von weiterhin bestehenden Defiziten bei der Ausstattung mit Schutzausrüstung berichteten 38 Prozent der Befragten. Das betrifft sowohl die hochwertigen FFP-Masken als auch einfache OP-Masken, Schutzkittel, Brillen, Handschuhe und Visiere. Daher müsse es auch eine Konsequenz aus den Erfahrungen mit der Corona-Krise sein, deutsche und europäische Produktionskapazitäten dafür aufzubauen.

Anlass zur Beunruhigung geben laut Marburger Bund auch Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI). Demnach betrug die Gesamtzahl der infizierten Beschäftigten in Krankenhäusern, ärztlichen Praxen, Dialyseeinrichtungen und Rettungsdiensten laut den Meldungen der Gesundheitsämter 11 088 (Stand 11. Mai). Rechnet man die vom RKI geschätzte Zahl der Genesenen ab, sind aktuell rund 900 Beschäftigte aus den genannten Bereichen infiziert. Allerdings gibt es bundesweit keine einheitliche Verfahrensweise, wie die Tätigkeit und der Tätigkeitsbereich durch die Gesundheitsämter zu erfassen sind. Damit ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Der MB fordert bereits seit Wochen eine systematische Erfassung des infizierten Personals und viel mehr Tests.

Gespalten zeigt sich die Mitgliedschaft in der Einschätzung der Lage. 44 Prozent befürchten trotz derzeit sinkender Infektionszahlen eine mögliche Überforderung des Versorgungssystems durch die aktuellen Lockerungen und eine mögliche zweite Welle. 41,5 Prozent teilen diese Befürchtung nicht, der Rest vermag sie derzeit nicht einzuschätzen. Insoweit sei die Ärzteschaft ein Spiegelbild der Gesamtgesellschaft, in der diese Frage auch sehr kontrovers diskutiert werde, bewertete Johna dieses Ergebnis.

Für die MB-Vorsitzende ist als Konsequenz der Krise klar, dass das Finanzierungssystem für den klinischen Bereich grundlegend geändert werden müsse. Die Vergütung nach Fallpauschalen bedeute nicht nur einen enormen bürokratischen Arbeitsaufwand für die Beschäftigten, sondern führe jetzt auch dazu, dass Kliniken in die roten Zahlen rutschten, weil sie »lukrative« Operationen und Therapien vorläufig ausgesetzt haben, um den Infektionsschutz zu gewährleisten und Kapazitäten für Corona-Patienten vorzuhalten. Diese Frage müsse die Politik »grundsätzlich angehen«, forderte Johna.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.